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Ein Virus stellt die internationale Arbeitsteilung auf den Prüfstand

Die Corona-Pandemie offenbart die Anfälligkeit der global vernetzten Wirtschaft. In der Folge wird sich die internationale Arbeitsteilung womöglich schneller verändern als vor der Krise erwartet. Denn das Virus verstärkt laut Experten die Rückkehr deutscher Unternehmen zur heimischen Produktion. Wie sich die Pandemie auf die internationale Arbeitsteilung auswirkt, erläutert Wirtschaftsjournalistin Miriam Binner.

Weltwirtschaft mit schwachem Immunsystem

Für Unruhe sorgte zuletzt die Pharmabranche: Fast 400 teils lebenswichtige Medikamente waren im Frühjahr 2020 laut dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) in Deutschland als nicht lieferbar gemeldet. Betroffen sei unter anderem das Narkosemittel Propofol, mit dem Covid-19-Patienten auf Intensivstationen für die Beatmung in ein künstliches Koma versetzt werden. Aber auch Antidepressiva oder Schmerzmittel seien häufiger nicht mehr verfügbar. Die Corona-Krise verschärft dem Bericht zufolge die Risiken für die Medikamentenversorgung.

Ursache sind Lieferketten über Länder und ganze Kontinente hinweg. Die großen Pharmakonzerne mit Sitz in Europa oder den USA sind auf Wirkstoffe angewiesen, die meist in China oder Indien hergestellt werden. Kommt es dort zu Produktionsstopps etwa in einem sogenannten Lockdown, können die Vorräte hierzulande schnell sinken – ein Risiko, das mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie deutlich greifbarer geworden ist.

Nicht nur die Abläufe in der Pharmabranche stellt die aktuelle Krise infrage. Nach Jahrzehnten der ökonomischen Verflechtung stehen erstmals Auto- und Elektronikfabriken in vielen Regionen gleichzeitig still, Fluggesellschaften aus verschiedenen Ländern kämpfen gegen eine Pleite, Millionen Menschen weltweit verlieren ihren Job und damit eine finanzielle Grundlage. Die globale Vernetzung der Wirtschaft stellt sich in der gegenwärtigen Krise als ein anfälliges System heraus, wie etwa die Münchener Wirtschaftspsychologin Sarah Diefenbach dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) erklärte: „Ich glaube, niemand hat sich am Anfang vorstellen können, dass eine Krankheit Auswirkungen hat auf wirklich fast jegliche Branche.“

Für Unternehmen ist die Corona-Krise ein Anlass, ihre internationale Aufstellung zu überdenken. Viele suchen nach Wegen, um ihre Abhängigkeiten zu reduzieren, beobachtet Steffen Kinkel, Experte für globale Produktion und Professor an der Hochschule Karlsruhe: „Die Störungen globaler Lieferketten wirken sich insbesondere auf die Neigung der Unternehmen aus, Produktion aus dem Ausland zurück an den heimischen Standort zu verlagern“, erklärte er im April. Fast die Hälfte der besonders betroffenen Unternehmen geht laut Kinkel davon aus, in den kommenden Jahren Teile ihrer Produktion wieder ins Inland zurückzuverlagern. Manche Experten rechnen gar mit einer beschleunigten Deglobalisierung. Die internationale Arbeitsteilung wird grundlegende Veränderungen erleben – und drängende Fragen aufwerfen für die künftige Positionierung Deutschlands als Exportnation.

Abschied unter Schmerzen

Der globale Handel hat seit Ausbruch der Corona-Pandemie und dem zeitweisen Stillstand der Wirtschaft in Europa enorm gelitten. Die Welthandelsorganisation (WTO) rechnet damit, dass die weltweiten Handelsströme dieses Jahr um bis zu einem Drittel einbrechen könnten. Die auf Export getrimmte deutsche Wirtschaft erlebt eine beispiellose Rezession: Die Wirtschaftsweisen erwarten ein Minus beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 6,5 Prozent. „Die Corona-Pandemie wird voraussichtlich den stärksten Einbruch der deutschen Wirtschaft seit Bestehen der Bundesrepublik verursachen", sagte der Vorsitzende des Sachverständigenrates, Lars Feld, Ende Juni. Erholung ist zwar ab dem Sommer in Sicht, dürfte aber schleppend anlaufen.

Lange Zeit hat kein Land so stark von internationalen Handelsbeziehungen profitiert wie die Bundesrepublik, erklärt der Berliner Ökonom Jan Priewe im Interview mit Teach Economy. So funktioniert die Arbeitsteilung heute: Industriestaaten setzen auf Hightech, aus den sogenannten Schwellenländern stammen einfachere Vorprodukte und Rohstoffe.

Inzwischen aber ist die internationale Verflechtung keine reine Kosten-, sondern auch eine Strategiefrage. Denn die Schwerpunkte in der globalisierten Welt haben sich längst verschoben. Chinas Arbeitsstunden sind nicht mehr so günstig wie zuvor, das Land mausert sich vom Niedriglohnparadies zum Technologie- und Dienstleistungsstandort. Das verändert das Kalkül der deutschen Produktionsbetriebe. Obendrauf kommt nun ein Virus, das die Risiken der globalen Verflechtung ins Blickfeld rückt.

Entsprechend beschleunigt sich der bereits begonnene Abzug deutscher Produktion aus dem Ausland, erwartet Kinkel. Treiber für das sogenannte Reshoring waren in den vergangenen Jahren technologische Fortschritte: vor allem die Automatisierung mit verstärktem Einsatz von Robotern und 3D-Druck. Etwa der Telefonhersteller Gigaset lässt Roboter im nordrhein-westfälischen Bocholt werkeln. „Dank Automatisierung können wir in Deutschland genauso günstig, viel flexibler und mit höherer Qualität als in China produzieren“, sagte Produktionsvorstand Reinhold Kempkes der „WirtschaftsWoche“.

Vernetzung als Stabilisator

Eindeutig ist der Drang in die Heimat allerdings nicht. Ob eine Rückkehr Sinn ergibt, hängt von vielen Faktoren ab. Einerseits von den Kosten, aber auch von der Komplexität der Herstellung und des Produkts. Deutlich macht das der Fall Adidas: Der Sportartikelhersteller aus Herzogenaurach hat vor wenigen Monaten das Prestigeprojekt gestoppt, seine Fertigung von Turnschuhen ins bayrische Ansbach und die US-Stadt Atlanta zu verlagern.

Der Grundgedanke: die neuen Möglichkeiten des 3D-Drucks zu nutzen, um direkt vor Ort in den Absatzmärkten produzieren zu können – und so an Tempo zu gewinnen. Ende 2019 kam aber die Abkehr: Partnerunternehmen in China und Vietnam übernehmen das Projekt. Ins Gewicht gefallen sind vor allem die hohen Energiekosten in Deutschland. So zieht sich der Trend zur Rückkehr nicht durch alle Unternehmen und Branchen: Experten erwarten, dass einfache Herstellungsprozesse mit geringen Qualitätsanforderungen auch weiterhin ausgelagert werden.

Das geschieht nicht ohne Nachteile, gerade für die Zielländer: Denn die Gewinne der internationalen Konzerne gehen auch zulasten der Arbeitsbedingungen und der sozialen Sicherung. Niedrige Energiekosten werden etwa durch fossile Brennstoffe und geringe Umweltschutzstandards teuer erkauft.

Dennoch warnen Experten vor einem vorschnellen Rückzug – gerade aus Sicht der deutschen Wirtschaft, die vom Status quo enorm profitiert. „Die Globalisierung hat dazu geführt, dass wir den heutigen Wohlstand haben“, sagte jüngst der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, dem RBB-Inforadio.

Zur Absicherung haben auch Lieferketten über Ländergrenzen hinweg ihre Berechtigung. Weil sie für Redundanz sorgen. So federn Unternehmen mit einer global verstreuten Produktion regionale Lockdowns einfacher ab als rein nationale Wettbewerber – weil etwa die eigenen Fabriken in anderen Ländern einspringen, wenn irgendwo ein Lockdown droht. „Tendenziell gilt: Internationale Unternehmen zeigen mehr Resilienz in dieser Krise“, stellte John Pearson, CEO von DHL Express, Anfang Juni in einem Gastkommentar für das „Handelsblatt“ fest. Nationale Lieferketten seien je nach Notlage nicht unbedingt widerstandsfähiger.

Diese Erkenntnis stützt auch die Karlsruher Forschung: Unternehmen reagieren auf die Corona-Erfahrungen, indem sie ihre Lieferketten sowohl lokal als auch global erweitern – also zweigleisig fahren: „Die Unternehmen scheinen eine Dual-Sourcing-Strategie mit sowohl inländischen als auch transnationalen Lieferantenbeziehungen anzustreben, um sich von den globalen Verwerfungen der Lieferketten unabhängiger zu machen“, so Kinkel. Dass viele deutsche Unternehmen damit bereits gestartet sind, beobachtet unter anderem die Beratungsgesellschaft EY. Ziel ist es, künftig besser auf Produktionsunterbrechungen vorbereitet zu sein und potenziell gefährliche Engpässe wie bei Medikamenten zuverlässig zu verhindern.

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