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Deutsche Wirtschaft unter Dauerstress – der Jahresrückblick

Ein Heizungsgesetz wird zur Hängepartie, der Industriestandort Deutschland schwächelt, und das Bundesverfassungsgericht kippt Investitionen in Milliardenhöhe. Im Wirtschaftsjahr 2023 rumpelte es gewaltig, resümiert Wirtschaftsjournalist Andreas Schulte.

Eigentlich hätte die deutsche Wirtschaft wachsen sollen, doch die Schätzung war zu optimistisch: Die Bundesregierung rechnete in ihrem Jahreswirtschaftsbericht im Januar mit einem Plus von 0,2 Prozent bei der Wirtschaftsleistung. Doch es kam anders: Im November folgte die Korrektur. Berlin senkte die Konjunkturprognose für 2023. Die neue Berechnung weist einen Rückgang von 0,4 Prozent aus. Bundeswirtschaftsminister Habeck erläuterte: „Wir kommen in einem schwierigen geopolitischen Umfeld langsamer aus der Krise heraus als gedacht.” Dies bekommen Verbraucher:innen und Unternehmen gleichermaßen zu spüren.

Das Jahr 2023 schleppt Altlasten mit sich

Tatsächlich steht bereits der Start ins Jahr unter schlechten Vorzeichen. Aus dem Vorjahr schwappt die Inflation herüber. Dieser Anstieg des Preisniveaus bringt eine Geldentwertung mit sich. Verbraucher:innen erhalten für ihr Geld also weniger Waren. Vor allem der anhaltende Krieg in der Ukraine treibt die Preise für Energie und Lebensmittel weiter an. Bei 8,7 Prozent liegt die Inflationsrate im Januar 2023. Die Europäische Zentralbank (EZB) erachtet einen Wert von zwei Prozent als ideal. Doch auch noch im Herbst sind es knapp vier Prozent – wohlgemerkt im Vergleich zum Vorjahr, als die Inflation bereits gut acht Prozent betrug. Die jetzigen vier Prozent sind also on top.

Verbraucher:innen leiden zudem unter weiterhin hohen Energiepreisen. Da erhitzt ein Regierungsplan die Gemüter zusätzlich. Im April billigt das Kabinett das Gebäudeenergiegesetz (GEG) – besser bekannt als Heizungsgesetz. Die Umstellung der Heizungen auf erneuerbare Energien soll vor allem dazu beitragen, die gesetzlich verankerten Klimaziele zu erreichen.

Doch um die Novelle wird heftig gerungen. Immobilienverbände sehen Hauseigentümer:innen zu sehr belastet. Neun Milliarden Euro an Investitionen pro Jahr könnte das Gesetz für Bürger:innen bedeuten, rechnet die Regierung vor. Die CDU befürchtet, dass dadurch Investitionen in neue Wohnungen unterbleiben. Zeitweilig legt sie das Gesetzgebungsverfahren im Sommer durch ein Eilverfahren beim Bundesverfassungsgericht lahm. Aufhalten kann sie es nicht. Im September passiert das GEG den Bundesrat. Nun muss ab dem Jahr 2024 beim Einbau neuer Heizungen ein Anteil von mindestens 65 Prozent erneuerbarer Energie eingesetzt werden.

Die Klimawende kommt den Staat teuer zu stehen. Denn Installationen, die zum Beispiel mit Erdwärme heizen, sogenannte Wärmepumpen, sind kostspielig. Der Staat fördert den Tausch einer Heizung laut Gesetz mit bis zu 21.000 Euro. Verbraucherschützer:innen protestieren weiterhin. Ihnen ist das zu wenig.

Hohe Energiepreise gefährden den Industriestandort

Nicht nur für die Bürger:innen spielen die Energiekosten im Jahr 2023 eine zentrale Rolle. Auch Deutschlands Unternehmen ächzen unter hohen Preisen. Laut dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) zahlen viele deutsche Firmen dreimal mehr für Strom als ihre internationale Konkurrenz. Sie fürchten daher um ihre Wettbewerbsfähigkeit.

Die Regierung will den Unternehmen unter die Arme greifen. Zu Beginn des Jahres schlägt Habeck einen verbilligten Industriestrompreis vor. Doch mit seiner Idee kann er sich in der Ampel-Regierung nicht durchsetzen. Bundeskanzler Scholz und auch die FDP sehen in einer solchen Subvention eine Bevorteilung der Industrie. Im November beschließt die Regierung daher ein sogenanntes Strompreispaket. Statt Sonderkonditionen sieht es Entlastungen bei der Stromsteuer vor. Doch Unternehmen und auch Gewerkschaften sind enttäuscht. In Duisburg demonstrieren zehntausend Beschäftigte für den Industriestrompreis. Der Verband der Chemischen Industrie kanzelt in der ARD-Tagesschau das Strompreispaket ab: Es bringe nicht die notwendige Entlastung.

Deutschland droht die De-Industrialisierung

Denn längst spielt der Strompreis bei Investitionsentscheidungen eine entscheidende Rolle. So werben etwa US-Bundesstaaten bereits mit garantierten Strompreisen für die Ansiedlung internationaler Unternehmen. Viele deutsche Firmen stehen vor dem Umbau ihrer Technologien hin zur klimaneutralen Produktion. Sie könnten neue Anlagen in Ländern mit besseren Rahmenbedingungen bauen. „Jedes einzelne Unternehmen wird für sich entscheiden, ob und wie es am Standort Deutschland weitergeht”, sagt Wolfgang Große Entrup, Chef des Verbands der Chemischen Industrie. Die De-Industrialisierung habe bereits eingesetzt.

Zu allem Überfluss muss die Industrie im November plötzlich zusätzlich auf bereits zugesagte Fördergelder für die grüne Transformation verzichten. Der Grund ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Die Regierung darf demnach zusätzlich zum Haushalt 2021 bewilligte Gelder in Höhe von 60 Milliarden Euro nicht wie geplant an Unternehmen auszahlen. Denn die Gelder stammen aus der Notlage der Coronakrise. In den Klima- und Transformationsfonds (KTF) dürfen sie daher nicht fließen. Mit dieser Umwidmung habe die Regierung die Schuldenbremse ausgehebelt, argumentiert das Gericht. Dadurch wird für 2023 ein Nachtragshaushalt fällig.

Streit um die Schuldenbremse

Damit hat der Wirtschaftsherbst sein neues Schlagwort: die Schuldenbremse. Diese im Grundgesetz verankerte Regelung begrenzt die jährliche Nettokreditaufnahme auf maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Aber ist das noch zeitgemäß? Schließlich herrscht in Deutschland großer Investitionsbedarf, etwa für den Klimawandel oder beim Ausbau der Infrastruktur. Befürworter:innen der Schuldenbremse beklagen, dass der Staat bei wachsenden Schuldenbergen mehr Geld für Zinsen ausgeben müsse – zulasten der Kinder- und Enkelgenerationen. Gegner:innen argumentieren, der Staat schränke sich in seinen Handlungen ein und gefährde so die Zukunftsfähigkeit Deutschlands.

Unklar ist, wie es mit der Schuldenbremse langfristig weitergeht. Eine baldige Änderung scheint ausgeschlossen. Denn für eine Grundgesetzänderung braucht es eine Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag.

Erst Mitte Dezember gelingt es der Regierung, einen Nachtragshaushalt für das laufende Jahr zu verabschieden. Als Voraussetzung dafür hatte das Parlament zuvor die Schuldenbremse für 2023 ausgesetzt. Denn, so das Gesetz: Bei einer Notlage darf die Schuldenbremse ausgesetzt werden. Die Ampel sieht in den Schäden der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 und im Ukrainekrieg eine solche Notlage. Dieses Hintertürchen hält sich die Ampel nun auch für den Haushalt 2024 offen, um die Schuldenbremse zu umgehen. Die Opposition hält dies für „Trickserei”.

Zinsen bremsen Wohnungsbau

Ein weiteres Problem wird bereits früher im Jahresverlauf sichtbar: Das allgemeine Zinsniveau zieht an. Etwa seit Oktober 2022 schwanken Bauzinsen zwischen etwa 3,5 und 4,5 Prozent. Die Steigerung ist Gift für den Wohnungsmarkt. Denn der Bedarf an Wohnungen ist groß, das Angebot hinkt hinterher. Die Bundesregierung verfolgt das Ziel, 400.000 neue Wohnungen pro Jahr zu bauen – und verfehlt es. Nach Angaben des Immobilienverbands Deutschland (IVD) dürften es 2023 höchstens 250.000 werden.

Die hohen Zinsen gepaart mit steigenden Baustoffpreisen bremsen Immobilienentwickler:innen aus. () Die wirtschaftliche Großwetterlage schlägt aber auch in anderen Branchen durch – etwa im Einzelhandel. Prominentestes Beispiel: Die Muttergesellschaft der Warenhauskette Galeria Karstadt Kaufhof hat Insolvenz angemeldet. Das Schicksal von rund 14.000 Mitarbeitenden steht auf dem Spiel.

Und wie geht es weiter mit der Wirtschaft? Nur 23 Prozent der Unternehmen blicken positiv auf 2024, hat das Institut der deutschen Wirtschaft herausgefunden. In der Studie heißt es: Die Konjunkturumfrage signalisiere „eine Fortsetzung der ökonomischen Schockstarre”.

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