„Wohlstand für alle“ – das war einst das Versprechen der Sozialen Marktwirtschaft. Jahrzehntelang bildete sie die Grundlage für Deutschlands wirtschaftliche Entwicklung. Doch was ist heute von ihren Grundideen und Zielen geblieben? Mit dieser Frage beschäftigen sich das aktuelle Material des Monats sowie der Beitrag von Wirtschaftsjournalist Jan Wittenbrink, der zeigt: Die deutsche Wirtschaftsordnung lässt viel Raum für Interpretationen und Debatten.
Der Titel war ein gewaltiges Versprechen: „Wohlstand für alle“ hieß das Buch, das 1957 in Deutschland für Furore sorgte. Der Autor: Ludwig Erhard, damals Bundeswirtschaftsminister, später Bundeskanzler (CDU). Erhard skizzierte seine Vorstellung einer Gesellschaft, in der alle gesellschaftlichen Schichten von einer florierenden Wirtschaft profitieren, die durch freien Wettbewerb und die Kräfte des Marktes angetrieben wird. Der Buchtitel wurde zum Slogan der Sozialen Marktwirtschaft – jener Wirtschaftsordnung, die in der Nachkriegszeit das deutsche „Wirtschaftswunder“ hervorbrachte. Ihre Grundidee, die auf den Ökonomen Alfred Müller-Armack zurückgeht: Angebot und Nachfrage spiegeln sich in Preisen wider, die am Markt für eine perfekte Verteilung von Gütern und Dienstleistungen sorgen. Der Staat schafft die entsprechenden Rahmenbedingungen wie das Recht auf Eigentum und faire Wettbewerbsbedingungen. Und: Er greift regulierend und umverteilend ein, wenn Teile der Gesellschaft in Not geraten, etwa durch Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Es gilt: Preise werden vom Markt gemacht, nicht vom Staat. Dieser beweise seine Stärke, indem er „die ergänzenden Politiken behutsam einsetzt und marktkonform gestaltet“ – so beschreibt es die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung.
65 Jahre nach Erscheinen der ersten Auflage von „Wohlstand für alle“ ist unsere Wirtschaftswelt – geprägt von Globalisierung und Digitalisierung – eine völlig andere geworden. Gleichzeitig befinden wir uns in einer Zeit der multiplen Krisen. Die Corona-Krise ging nahtlos in den Krieg in der Ukraine und die damit einhergehende Energiekrise über. Die Klimakrise schwebt wie ein Damoklesschwert über allem. Nur eins ist geblieben: Die Soziale Marktwirtschaft ist nach wie vor das Leitbild deutscher Wirtschaftspolitik, auf das sich alle politischen Lager irgendwie einigen können. Auch die Mehrheit der Bevölkerung steht hinter dem Wirtschaftsmodell – das zeigte eine repräsentative Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach im Jahr 2021. 56 Prozent der Befragten gaben demnach an, eine gute Meinung vom deutschen Wirtschaftssystem zu haben.
Wohlstand kommt nicht bei allen an
Viele Menschen können sich in der Sozialen Marktwirtschaft wohl auch deshalb wiederfinden, weil ihre genaue Ausgestaltung viel Raum für Interpretation lässt – v. a. was die ausgleichende Rolle des Staates angeht. Doch was ist eigentlich aus dem Slogan „Wohlstand für alle“ geworden? Die deutsche Wirtschaft ist – gemessen am Bruttoinlandsprodukt – in den vergangenen Jahrzehnten stetig gewachsen. Doch längst nicht alle gesellschaftlichen Schichten haben davon profitiert. Das zeigte eine Studie der Bertelsmann-Stiftung bereits 2017. Demnach nahmen zwischen 1991 und 2014 höhere Einkommen zwar im Schnitt um 1,3 Prozent pro Jahr zu, niedrigere Einkommen profitierten dagegen kaum oder mussten sogar Verluste hinnehmen. „Seit der Wiedervereinigung kommt das Wirtschaftswachstum bei den untersten 40 Prozent nicht an“, sagte Manuela Barišić, Wirtschaftsexpertin der Bertelsmann-Stiftung. Um der Einkommensungleichheit entgegenzuwirken, führte die Bundesregierung 2015 erstmals einen gesetzlichen Mindestlohn ein, der 2022 auf 12 Euro erhöht wurde. Einen solchen – nicht marktkonformen – Eingriff in die Lohnbildung hatten die Begründer der Sozialen Marktwirtschaft eigentlich ausgeschlossen. Die Ungleichheit in Deutschland ist heute trotz aller staatlichen Eingriffe hoch – v. a., was die Vermögen angeht. Schätzungen zufolge verfügt heute ein Prozent der Bevölkerung über ein Drittel des deutschen Gesamtvermögens. Wohlhabendere Bevölkerungsgruppen profitieren insbesondere von Erbschaften sowie hohen Kapitaleinkommen. Die Corona-Krise hat die Ungleichheit weiter verstärkt, der zeitweise Stillstand traf v. a. Geringverdiener und Selbstständige.
Für die seit den 1990er Jahren stark zunehmende Ungleichheit ist ein Kernelement der Sozialen Marktwirtschaft selbst mitverantwortlich: Der Wettbewerb. Die Globalisierung sorgte für zunehmenden Druck auf die Löhne, viele Unternehmen verlagerten Jobs direkt ins Ausland, wo die Gehälter niedriger waren. Vom exportorientierten Wirtschaftsmodell Deutschlands profitierten Unternehmen und Fachkräfte, nicht aber Geringqualifizierte. Die Liberalisierung der Kapitalmärkte sorgte zusätzlich für eine stetige Vermehrung des Vermögens der Wohlhabenden. Die Hartz-Reformen der Regierung Schröder kürzten zu Beginn des Jahrtausends zudem staatliche Transferleistungen für Arbeitslose. Zusätzlich fallen heute viele geringqualifizierte Jobs der Automatisierung und Digitalisierung der Produktion zum Opfer.
Zwanzig Jahre nach den Hartz-Reformen stellte die Bundesregierung im Jahr 2022 die Weichen für das sogenannte Bürgergeld, den Nachfolger des Arbeitslosengeld II. Die Sozialreform trat im Januar in Kraft. Die Debatten um das Bürgergeld zeigten, wie unterschiedlich die Soziale Marktwirtschaft ausgelegt werden kann. Die einen kritisierten es als leistungslose Zahlung, das Anreize zum Arbeiten verringere. Der ehemalige hessische Ministerpräsident und heutige Vorsitzende der Ludwig-Erhard-Stiftung, Roland Koch, schrieb im Juni, das „dazugehörende Verständnis von Sozialstaat“ sei „respektlos gegenüber der Mehrheit“. Anderen gingen die Reformen nicht weit genug. Frank Werneke, Vorsitzender der Gewerkschaft Verdi, bezeichnete sie als einen „schlechten Kompromiss zulasten der Menschen, die Hilfe und positive Begleitung statt Bestrafung brauchen.“ Kritisiert wurde insbesondere die Streichung einer zunächst vorgesehenen sechsmonatigen Vertrauenszeit, in der es keine Sanktionen für Pflichtverletzungen hätte geben sollen. Das Bürgergeld soll – so der Plan der Regierung – Arbeitslosen ein ausreichendes Existenzminimum ermöglichen und dadurch auch mehr Räume für Weiterqualifizierungen öffnen. Die Teilnahme an Weiterbildungen soll ab Juli 2023 mit Prämienzahlungen belohnt werden.
Aufstieg durch Qualifizierung – das war ein weiteres zentrales Versprechen der Sozialen Marktwirtschaft. Das vom Staat finanzierte Bildungssystem sowie der freie Markt sollen für Chancengerechtigkeit sorgen. Doch die Realität sieht oftmals anders aus. „Die Institutionen der sozialen Marktwirtschaft sind immer weniger in der Lage, das soziale Aufstiegsversprechen tatsächlich einzulösen“, konstatierte die Bertelsmann-Stiftung 2021. Schon der Bildungserfolg hängt in Deutschland sehr stark vom Elternhaus ab: Nach Zahlen des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft von 2020 besuchen von hundert Grundschulkindern aus Nicht-Akademikerfamilien später nur 21 Prozent eine Hochschule. Bei den Akademikerfamilien sind es 74 Prozent. Um dem entgegenzuwirken, seien u. a. mehr Ganztagsschulen vonnöten, so die Studie.
Staat greift in die Preisbildung ein
Auch aktuelle Krisen sorgen dafür, dass der Staat an den Grundprinzipien des Wirtschaftsmodells rüttelt. 2022 brachte die Bundesregierung angesichts der stark steigenden Energiepreise die sogenannte Gaspreisbremse auf den Weg. Der Gaspreis soll auf 12 Cent pro Kilowattstunde gedeckelt werden – dies gilt zumindest für 80 Prozent des Vorjahresverbrauchs. 90 Milliarden Euro kostet das bis 2024. Damit sollen insbesondere geringverdienende Menschen entlastet werden. Der Ökonom Hans-Werner Sinn bezeichnete die Gaspreisbremse im Oktober als ein Instrument, bei dem es Ludwig Erhard „geschüttelt“ hätte. Der staatliche Preiseingriff verhindere Anreize zum Energiesparen und treibe die Inflation weiter voran. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, bezweifelte die Entlastung Geringverdienender – schließlich verbrauchten Personen mit höherem Einkommen in der Regel deutlich mehr Energie. Ihnen komme der Eingriff daher besonderes zugute. Fratzscher forderte stattdessen direkte Ausgleichszahlungen an Niedrigverdienende.
Die Soziale Marktwirtschaft bleibt also eine Leitidee, über deren Ausgestaltung viel debattiert wird. Nicht zuletzt auch, weil mit dem Klimaschutz eine gewaltige Herausforderung hinzugekommen ist, die zur Zeit von Ludwig Erhard noch gar kein Thema war. Umweltprobleme werden vom marktwirtschaftlichen Preismechanismus besonders schlecht abgebildet und es stellt sich die Aufgabe, Klimaschutz sozial verträglich zu gestalten. Denn höhere Preise für Energie, Mobilität oder Lebensmittel treffen v. a. Geringverdienende, die sich aufgrund ihrer Wohn- und Arbeitssituationen oft auch schlechter vor Folgen des Klimawandels wie Hitzewellen schützen können. Bereits seit den 1980er Jahren existiert der Begriff der „Ökosozialen Marktwirtschaft“, auf den sich heute insbesondere die Grünen berufen. Ziel soll eine Wirtschaftsordnung sein, welche Wohlstand mit Klima- und Umweltschutz verknüpft – und dabei weiterhin auch Kräften des Marktes vertraut.
Material des Monats: Die Herausforderungen der Sozialen Marktwirtschaft: Mehr Markt oder mehr Staat?
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