In der Politik wird derzeit viel über die Schuldenbremse gestritten. Ökonom und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Büro Die Linke für Finanzpolitik im Bundestag Maurice Höfgen erklärt aus seiner Sicht, wie sie funktioniert, was sie bewirkt – und wie sie reformiert werden könnte. Die Debatte dreht sich um finanzielle Spielräume und Investitionen in Zukunftsprojekte. Kann Deutschland sich mehr leisten, als die Schuldenbremse erlaubt?
Geld ist das größte Streitthema in der Politik. Fast alles dreht sich darum, wie viel wofür ausgegeben und wem über Steuern und Abgaben wie viel abgenommen wird. Und: Wie viele neue Schulden der Staat macht. Wer die Umwelt schützen, Armut bekämpfen, Schulen modernisieren oder Straßen reparieren will, muss über Geld reden. Über viel Geld sogar. Milliardensummen. Und darüber, was der Staat sich leisten kann – und leisten darf. Zwischen Können und Dürfen gibt es nämlich einen großen Unterschied. Deutschland kann sich nämlich mehr leisten, als es darf.
Wir können uns alles leisten, wozu wir die nötigen Ressourcen haben und technisch in der Lage sind. Gibt es fähige Arbeitskräfte mit ausreichend Kapazität, um eine neue Brücke zu bauen? Haben wir dafür alle Materialien und Werkzeuge? Wenn ja, können wir uns das sofort leisten. Der Staat könnte den Auftrag an eine Firma vergeben und dafür bezahlen. Arbeitskraft und Ressourcen sind begrenzt, Geld aber nicht. Wie auch? Geld ist eine menschliche Erfindung, ein Buchhaltungskonstrukt, das heutzutage per Knopfdruck an Computern entsteht. Es ist heute nicht mehr durch physische Werte wie Gold gedeckt. Stattdessen entsteht es elektronisch durch Buchungsvorgänge, die Zentralbanken durchführen. Geld ist somit nicht wie natürliche Ressourcen begrenzt, sondern kann theoretisch unbegrenzt geschaffen werden, solange Vertrauen in das Währungssystem besteht.
Der Staat darf sich aber nur leisten, was rechtlich erlaubt ist. Erlaubt ist aber nur, ein bisschen mehr Geld auszugeben als der Staat über Steuern einnimmt. Das gibt die Schuldenbremse vor. Kurz vor der Sommerpause beispielsweise hat die Ampel-Regierung in nächtelangen Haushaltsverhandlungen einige Wunsch-Projekte gestrichen, um die Schuldenbremse einzuhalten. Die steht schließlich in der Verfassung.
So funktioniert die Schuldenbremse
Die Schuldenbremse beschränkt die Neuverschuldung. Ein wesentlicher Grund für diese Beschränkung liegt in der Sorge, dass Politiker in Wahljahren erhöhte Ausgaben durch sogenannte Wahlgeschenke tätigen könnten. Solche zusätzlichen Ausgaben könnten zu einer übermäßigen Verschuldung führen, die langfristig hohe Tilgungsraten und möglicherweise Steuererhöhungen erfordern würde. Sie regelt wie viel der Bund mehr ausgeben darf, als er an Steuern einnimmt. Nämlich 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung und noch ein bisschen mehr, wenn die deutsche Wirtschaft in der Krise ist – oder ein bisschen weniger, wenn die Wirtschaft super läuft. Wie sich das Bisschen berechnet, hängt von vielen Details ab (das erspare ich uns) und hat keine wissenschaftliche Grundlage.
Was einen stutzig machen kann: Im Bundeshaushalt für das Jahr 2025 sind neue Schulden in Höhe von 44 Milliarden Euro eingeplant. Das ist deutlich mehr als 0,35 Prozent von etwas mehr als 4 Billionen Euro Wirtschaftsleistung (plus ein bisschen, weil die Wirtschaft kriselt). Der Grund: Die Schuldenbremse hat viele Ausnahmen. Für Notlagen wie Kriege oder Naturkatastrophen, zum Beispiel die Corona-Krise, die Flut im Ahrtal oder der Ukraine-Krieg.
Aber auch für staatliche Beteiligungen sind Ausnahmen vorgesehen. Damit der Bund nicht zu Privatisierungen gezwungen wird, um Haushaltslöcher zu stopfen. Genau funktioniert das so: Erhöht der Bund beispielsweise sein Eigenkapital bei der Deutschen Bahn AG (die ihm zu 100 Prozent gehört), fließt zwar Geld vom Finanzminister an die Bahn, aber das gilt nicht als Ausgabe, sondern als Anlage. Anders als bei einem Beamten, der bezahlt wird, ist das Geld nicht weg, sondern nur anders angelegt. Das gleiche gilt aber auch andersherum: Verkauft der Bund seine Post- oder Telekomaktien bringt das zwar Geld in die Kasse, schafft aber keinen Spielraum unter der Schuldenbremse. Solche Käufe und Verkäufe gelten als finanzielle Transaktion und sind vollständig von der Schuldenbremse ausgeklammert. Und 2025 fließen über den Weg fast 13 Milliarden Euro in das sogenannte Generationenkapital (ehemals Aktienrente) und sechs Milliarden Euro in die Bahn. Das allein erklärt 19 Milliarden zusätzliche Schulden – bei formaler Einhaltung der Schuldenbremse.
Schuldenbremse reformieren?
Neben der deutschen Schuldenbremse gibt es auch noch die Schuldenregeln der Europäischen Union. Bemerkenswert: Die deutsche Schuldenbremse ist deutlich strenger. Die EU-Regeln erlauben nämlich eine Neuverschuldung von 0,5 Prozent der Wirtschaftsleistung. Und wenn der Schuldenstand unter 60 Prozent liegt, sehen die EU-Verträge sogar eine Neuverschuldung von drei Prozent der Wirtschaftsleistung vor, damit wären dann fast 110 Milliarden Euro zusätzlich erlaubt – jedes Jahr. Zur Einordnung: Derzeit steht Deutschland knapp über 60 Prozent, die zwei anderen größten EU-Länder Frankreich und Italien allerdings weit über der 100-Prozent-Marke.
Immer mehr Ökonom:innen fordern, die Schuldenbremse zu lockern. Auch jene, die eher als konservativ gelten. Die Wirtschaftsweisen etwa. Die Schuldenbremse sei unnötig streng, sagen die Wirtschaftsweisen. Wenn man sie so lasse, wie sie heute ist, werde die Schuldenquote stärker sinken als nötig. Deshalb fordern sie, dass bei niedriger Schuldenquote mehr Schulden als die bisherigen 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung erlaubt sind. Konkret: die alte Grenze von 0,35 Prozent Neuverschuldung soll erst ab einer Schuldenquote von 90 Prozent greifen, darunter sollen 0,5 Prozent Neuverschuldung erlaubt sein und bei einer Schuldenquote von unter 60 Prozent sogar ein Prozent. So schlägt es auch die Bundesbank vor. Die Folge: neue Investitionen in Milliardenhöhe wären möglich.
Ähnlich positioniert sich der internationale Währungsfonds (IWF). Die Vize-Chefin des IWF, Gita Gopinath, schlug neulich im Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit vor, die Grenze der Neuverschuldung um einen Prozentpunkt zu erhöhen. Das wären rund 40 Milliarden Euro an zusätzlichem Spielraum und sogar mehr als das, was die Wirtschaftsweisen fordern. Auch der IWF-Chefökonom, Pierre-Olivier Gourinchas, attestierte jüngst gegenüber dem Handelsblatt: „Deutschland zahlt den Preis für seine sehr harte Schuldenbremse“. Und weiter: „Der deutsche Schuldenstand ist völlig unter Kontrolle. Zugleich erhöht sich der strukturelle Ausgabenbedarf der Bundesrepublik, sei es beim Klimaschutz, der Verteidigungspolitik oder der Energieunabhängigkeit. Die beste Lösung wäre eine Lockerung dieser verfassungsrechtlichen Regelung.“
Schuldenbremse als Zukunftsbremse?
Die Schuldenbremse ist kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. 2009 wurde sie eingeführt, übrigens nicht unter einem FDP-Finanzminister, wie man vielleicht meinen könnte, sondern von SPD-Finanzminister Peer Steinbrück. Nach der Finanzkrise 2007, kurz vor Einführung der Schuldenbremse, war die deutsche Schuldenquote auf über 80 Prozent der Wirtschaftsleistung gestiegen. Das hatte zwei Gründe: Die Wirtschaftsleistung war eingebrochen und die damalige Regierung musste viele neue Schulden machen, um Banken zu retten und die Wirtschaft anzukurbeln. Der Zweck der Schuldenbremse damals war eine symbolische Maßnahme gegen den verhältnismäßig starken Anstieg der Schuldenquote. Politisch gesehen sind Staatsschulden in Deutschland nämlich nicht beliebt. Einer Regierung, die viele neue Schulden macht, wird gemeinhin attestiert, nicht gut mit Geld umzugehen. Das ist zwar ökonomisch nicht immer richtig, aber politisch eben die Realität.
Die Schuldenbremse hatte leider auch schädliche Nebenwirkungen. Sie hat den Spielraum für öffentliche Investitionen geschmälert. Deutschland investiert seit Jahren zu wenig in seine Infrastruktur. Das belegt eine bittere Zahl: Die öffentlichen Nettoinvestitionen schwanken seit mehr als einem Jahrzehnt um den Nullpunkt. Das heißt: Die Abschreibungen auf den Wertverfall bestehender Infrastruktur ist so groß wie die neuen Investitionen. Es gibt also keinen Fortschritt.
Das ist sowohl dem Bundesverband der deutschen Industrie als auch der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung und dem arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft ein Dorn im Auge. Sie fordern über die nächsten zehn Jahr pro Jahr 40 bis 60 Milliarden Euro zusätzlich an öffentlichen Investitionen. Also 400 bis 600 Milliarden Euro. Wohlgemerkt: Allein, um den Investitionsstau der Vergangenheit aufzulösen. Mit der Schuldenbremse ist das allerdings nicht umsetzbar, solange man sie nicht reformiert. Den Vorwurf, eine Investitionsbremse und damit auch eine Zukunftsbremse zu sein, muss sich die Schuldenbremse in ihrer aktuellen Ausgestaltung also gefallen lassen.
Maurice Höfgen ist Ökonom, freier Publizist und YouTuber. Er betreibt den Kanal „Geld für die Welt“ und moderiert bei „Jung und Naiv“..
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