Die Währungshüter der Europäischen Zentralbank (EZB) blicken sorgenvoll auf die Entwicklung der Preise. Denn seit Jahren verfehlen sie ihr Ziel einer Teuerungsrate von knapp zwei Prozent – und die aktuelle Pandemie verschärft die Lage. Die Vermittlung der Grundlagen im Unterricht unterstützt das aktuelle Material des Monats. Wie die Corona-Krise auf die Inflation und damit auf die Strategie der EZB wirkt, erklärt Wirtschaftsjournalistin Miriam Binner.
Auf die jüngsten Alarmsignale folgt ein großer Aufschlag: Um 500 Milliarden Euro stockt die EZB ihr aktuelles Krisenprogramm auf, wie sie am vergangenen Donnerstag entschied. Die Hoffnung ist ein kräftiger Impuls für die Wirtschaft. Denn die Währungshüter sind beunruhigt: Seit Monaten fallen die Preise. „Die Inflation ist enttäuschend niedrig“, gibt die EZB-Präsidentin Christine Lagarde zu. 0,3 Prozent im Minus lag sie im November, der niedrigste Wert seit fast sechs Jahren.
Es ist eine Zahl mit großer Bedeutung: Die Teuerungsrate von Produkten und Dienstleistungen gilt als wichtiger Gradmesser für die wirtschaftliche Entwicklung. Und ist damit auch Grundlage für Hilfspakete in der Krise.
Für die geldpolitischen Strategen drängt die Zeit. Seit Jahren bereits verfehlt die EZB ihr Ziel, die Inflationsrate bei knapp unter zwei Prozent zu halten. Nah an dieser Marke gelten die Verbraucherpreise als stabil, eine Deflation abgewehrt und das Vertrauen in die gemeinsame Währung der 19 Euro-Länder gesichert. In der Pandemie tritt der Druck auf die Preise besonders deutlich zutage. „Nach der Finanzkrise hat man unterschätzt, wie langfristig ein solcher Schock die Inflation drückt. Ein ähnliches Problem könnte durch die Pandemie entstehen“, warnte EZB-Direktorin Isabel Schnabel Anfang November in einem Interview mit dem Handelsblatt. Vor dem Hintergrund stellt die Zentralbank ihren Kurs nun auf den Prüfstand.
Sondereffekte trüben die Sicht
Die aktuelle Lage ist allerdings schwierig zu bewerten. Denn auf die Preise wirken verschiedene Kräfte. Einerseits die staatlichen Hilfsmaßnahmen: So dämpft beispielsweise die Mehrwertsteuersenkung von 19 auf 16 Prozent den Preisanstieg. Zwar sind Unternehmen nicht verpflichtet, ihre Preise anzupassen. Supermärkte aber beispielsweise reichen die Steuersenkung laut dem Wirtschaftsforschungsinstitut Ifo überwiegend an die Verbraucher weiter. Die Bundesbank geht davon aus, dass der niedrigere Satz zu gut 60 Prozent bei den Kunden ankommt. Was Anfang kommenden Jahres mit Rückkehr zur bisherigen Mehrwertsteuer passiert, lässt sich laut Ifo-Institut nur schwer absehen. Möglich sei, dass die Preise dann sogar stärker steigen als sie vorher gesenkt wurden.
Wohin die Inflationsrate insgesamt steuert, hängt stark von einzelnen Produktkategorien ab – und von deren Gewichtung im untersuchten Warenkorb. Die Preise für Kraftstoffe und Heizöl zum Beispiel sinken derzeit stark. Allein im Oktober ging es elf beziehungsweise 37 Prozent nach unten. Ohne Energieprodukte hätte die Inflation in dem Monat 0,6 Prozent im Plus gelegen, meldete das Statistische Bundesamt.
Fehlende Daten erschweren zusätzlich den Überblick. So sind die Preiserfasser der Statistikämter coronabedingt auf Ausweichpläne angewiesen. Denn für manche Teile des Warenkorbs lässt sich momentan kein genaues Bild ermitteln, weil Geschäfte aufgrund zeitweiser Lockdowns geschlossen bleiben, oder Angebote ganz gestrichen werden – zum Beispiel für Flüge, Hotels, Kreuzfahrten und andere Pauschalreisen. Die Statistikämter der Länder, des Bundes und der EU haben dafür Sonderregeln beschlossen: Sie schreiben etwa frühere Preise fort und schicken Preiserfasser zur Recherche verstärkt ins Netz statt in die Läden vor Ort.
Schwache Aussichten
In dieser Gemengelage sucht die EZB nach einer passenden Reaktion. Vizepräsident Luis de Guindos sorgen die weiteren Aussichten: „Die Inflationserwartungen sind sehr verhalten als Folge der Pandemie und einiger spezieller Faktoren“, sagte er im Oktober auf einer Online-Veranstaltung der spanischen Zeitung „El Economista“ und mahnte: „Wir müssen mit den uns verfügbaren Instrumenten handeln.“
Bislang lautet der Kurs: ultralockere Geldpolitik. Der Leitzins liegt seit fast fünf Jahren auf dem Rekordtief von 0,0 Prozent. Banken zahlen Negativzinsen auf ihre Einlagen bei der EZB. Und mit Anleihenkäufen pumpt die Zentralbank Geld ins System. Bei steigenden Löhnen müsste es laut Lehrbuch damit auch für die Inflation steil nach oben gehen. Doch von ihrer Zielmarke ist die EZB seit 2013 weit entfernt.
Der Gedanke hinter dem Idealwert: Zwei Prozent Inflation und damit Verlust der Kaufkraft sind verkraftbar, gleichzeitig bleibt genug Abstand zur Null-Linie und damit zur drohenden Deflation. Die führt der Theorie zufolge in eine gefährliche Abwärtsspirale: Konsumenten und Investoren halten sich bei fallenden Preisen eher zurück und warten auf noch günstigere Deals. Die Wirtschaft verliert an Schwung und rutscht in eine Rezession.
Von einer solchen Dynamik in der europäischen Wirtschaft will die EZB-Chefin selbst in der aktuellen Krise nicht sprechen. Für die nächsten Monate erwartet sie zwar weiterhin fallende Preise, Anfang kommenden Jahres aber könnte die Inflation wieder anziehen, so Lagarde. Pessimistischer äußerte sich LBBW-Chefökonom Uwe Burkert Ende Oktober: „Durch die jüngst beschlossenen Lockdown-Maßnahmen könnte sich die Phase negativer Inflationsraten sogar noch weiter in die Länge ziehen“, sagte er laut Nachrichtenagentur Reuters. Ohne weitere Schritte der Zentralbank gehen Investoren längerfristig von nur knapp 1,2 Prozent Inflation aus.
Suche nach der künftigen Strategie
Warum die Preise nicht anziehen, treibt die Experten um. Manche vermuten, dass einfachere Preisvergleiche im Internet eine Rolle spielen: Wer Kunden nicht an den nächsten Online-Shop verlieren will, sieht sich eher gezwungen, den Rotstift anzusetzen. Andere machen die Globalisierung mit verantwortlich: Wer höheren Preisen ausweichen will, findet im Ausland meist günstigere Alternativen.
Fest steht: Die EZB braucht Erklärungen für ihren Kurs. Etwa für die lange Niedrigzinsphase, die Sparer belastet. Anfang des Jahres kündigte die Zentralbank einen Strategiedialog an, der erstmals seit 2003 wieder grundlegende Fragen beantworten soll. Im Austausch mit der Finanzbranche, Wissenschaftlern und Bürgern will die EZB vor allem ihre Definition von Preisstabilität aktualisieren. Für die Inflation ist etwa ein verändertes Punktziel denkbar. Ein Ergebnis liegt frühestens Anfang 2021 vor.
In einem weiteren Schritt sollen auch die Messmethoden überarbeitet werden. So steht der bisherige Warenkorb in der Kritik, weil er aus Sicht vieler Verbraucher nicht richtig gewichtet. Die daraus errechnete Inflation geht damit an der tatsächlich empfundenen Inflation vorbei. So forderte unter anderem Bundesbankpräsident Jens Weidmann jüngst, Wohnkosten stärker zu berücksichtigen: „Ich persönlich wäre bereit, einige methodologische Unschärfen zu akzeptieren, um besser die wirklichen Lebensumstände der Menschen widerzuspiegeln.“ Konkret schlägt Weidmann vor, die Kosten für selbst genutztes Wohneigentum in die Inflationsrate des Euro-Raums einzubeziehen. Bislang spielen nur die Mieten eine Rolle.
Im akuten Kampf gegen die Corona-Folgen erweitert die EZB nun bereits zum zweiten Mal ihr im März beschlossenes Hilfspaket namens PEPP (Pandemic Emergency Purchase Program). Eine erste Nachbesserung gab es im Juni. Vorgesehen sind jetzt 1,85 Billionen Euro an Anleihenkäufen bis mindestens Ende März 2022. Bleibt abzuwarten, ob sich die Inflation durch den neuen Aufschlag der Währungshüter bewegt.