Die Aussicht, sich mit politischen oder ökonomischen Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts zu befassen, provoziert bei Lernenden und häufig auch bei deren Lehrenden nicht gerade Begeisterungsstürme. Nach Wirtschaftslehrerin Sabine Steinbeck, der Autorin des Materials des Monats, resultiert die Skepsis aus der Angst vor schwer verständlichen Texten und aus der Annahme, dass kaum etwas für unser heutiges Leben ableitbar ist. Im Interview schildert sie, wie sie mit diesen Vorbehalten im Unterricht aufräumt.
Frau Steinbeck, zunächst zu John Locke: Was genau ist Ihrer Meinung nach auch heute noch interessant an seiner Theorie?
Bei jeder Wahl stellt sich die Frage: Weshalb unterwerfen sich Menschen freiwillig einem Herrschaftssystem bzw. einer Regierung? Stellt man diese Frage Schüler:innen erkennen sie, dass dieses Phänomen eng verknüpft ist mit dem Begriff des Eigentums. Von ihrer Regierung erwarten die Bürger:innen eines Staates den Schutz von privatem Eigentum und Freiheitsrechten vor Übergriffen von anderen. Dafür geben sie einen Teil ihrer Rechte ab und akzeptieren, dass Gesetze von der Legislative entwickelt und von der Exekutive ausgeführt werden. Im Gegenzug haben sie das Recht, die Regierung wieder abzuwählen. Und schon ist man bei Locke. Ausgehend von der Idee, dass jeder Mensch ein „Naturrecht“ auf Eigentum hat und gewissermaßen frei in seinem politischen Handeln ist, legte er vor fast 350 Jahren den philosophisch begründeten Grundstein der Volkssouveränität, die für uns heute selbstverständlich und mit Artikel 20 in unser Grundgesetz als unabänderlich eingemeißelt ist.
Lässt sich diese Aktualität von Locke auch ökonomisch herstellen?
Lockes liberaler Eigentumsbegriff basiert auf der Überlegung, dass jeder Mensch der Erde so viel Besitz abringen darf, wie er vermag. Dabei hatte Locke – passend zu seiner Zeit – Jäger und Sammler oder bestenfalls den Ackerbau oder Viehzucht betreibende Bauern im Sinn. Spannend wird es, wenn man Lockes Gedanken mit Blick auf eine globalisierte Welt weiterspinnt: Wie viel darf ein einzelner Mensch besitzen, wie viele natürliche Ressourcen dürfen wir nutzen? Dürfen wir unseren eigenen Wohlstand unendlich und auch auf Kosten anderer vermehren? Diese im 17. Jahrhundert aufgeworfenen Fragen sind brandaktuell. Berechnungen des Global Footprint Network weisen für 2022 den Earth Overshoot Day für den 28. Juli (auf Deutschland bezogen: 4. Mai) aus. Ab diesem Tag leben wir über unsere Verhältnisse und verbrauchen mehr, als die Erde in diesem Jahr noch regenerieren kann.
2021 gelten laut Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbands 16,6 Prozent der in Deutschland lebenden Bevölkerung als arm. Das heißt: 13,8 Millionen Menschen verfügen über weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens, 300.000 mehr als 2020. Auch wenn die Indikatoren zur Armutsmessung umstritten sind, zeigt sich eine starke soziale Ungleichheit. Diese birgt ein enormes Konfliktpotenzial, momentan wird das angesichts der massiven Inflation und der steigenden Energiekosten, die untere Einkommensschichten überproportional belasten, besonders deutlich. Die Angst der Bundesregierung vor einer zunehmenden sozialen Spaltung und einem Volk, das „auf die Barrikaden gehen“ könnte, ist greifbar.
Und wie sieht es bei Adam Smith aus?
Während bei Locke noch der politisch handelnde Mensch im Mittelpunkt stand, fokussierte sich Adam Smith gut 100 Jahre später auf den „homo oeconomicus“ und seine Rolle in der Welt der Wirtschaft. Was diese zusammenhält, wollte er wissen und suchte nach Gesetzmäßigkeiten und Regeln. Die in Smith‘ Hauptwerk „The Wealth of Nations“ formulierte Grundidee des wirtschaftlichen Liberalismus ist bestechend einfach und lebt in der freien Marktwirtschaft bis heute fort: Jeder Mensch handelt im Sinne eines rationalen Nutzenmaximierers, ist somit ein „homo oeconomicus“, und will seinen Wohlstand vermehren. Dies trägt zum Gemeinwohl der gesamten Gesellschaft bei und, übertragen auf den internationalen Handel, sorgt der freie Markt für höhere Lebensstandards und gleichzeitig für Frieden. Grundlage dafür ist ein freier Markt, der sich selbst reguliert und dessen rechtliche Rahmenbedingungen vom Staat sichergestellt werden sollen. Arbeitskräfte, Rohstoffe und Geld würden sich schon, so Smith, wie von einer „unsichtbaren Hand“ geleitet, zielführend verteilen. Smith war für seine Zeit revolutionär und mutig: Offen kritisierte er das von den absolutistischen Systemen Europas umgesetzte System des Merkantilismus, das mit Zöllen und Handelsbarrieren Geld für die Kriegswirtschaft in die Staatskassen spülte, und setzte sich für freien Handel zwischen den Nationen ein. Es wird deutlich: Smith‘ Thesen, die über lange Jahre das Mantra der liberalen Ökonomen in westlichen Industrienationen waren und oft von seinen Kritikern als „Bibel des Kapitalismus“ bezeichnet werden, sind auch heute eine Auseinandersetzung wert.
Können Sie dafür konkrete aktuelle Beispiele nennen?
Mehr oder weniger schmerzhaft erfahren wir derzeit, dass Handel nicht zwangsläufig vor Konflikten und militärischen Aggressionen schützt. Weizen und Gas werden als Druckmittel im Krieg eingesetzt. Internationale Lieferketten sind ein fragiles Konstrukt und Einfuhrzölle wurden mit Trumps Regierungszeit wieder salonfähig. Zwar ist der „Wohlstand der Nationen“ auch in den ökonomisch sich entwickelnden Staaten in den vergangenen Jahrzehnten massiv gestiegen, doch 2020 verzeichneten die UN erstmals seit 20 Jahren einen Anstieg der extremen Armut weltweit.
Seit der Corona-Pandemie wurde der Ruf nach einem Staat, der das wirtschaftliche Geschehen stärker in die Hand nimmt und für seine Bürger dort einspringt, wo der Markt versagt, immer lauter. Da mutet es schon ein wenig weltfremd an, dass das Adam Smith Institute auf seiner Homepage unverdrossen mit dem Slogan „Using free markets to create a richer, freer, happier world“ wirbt.
Wie schaffen Sie es, in Ihrem Unterricht Lust auf diese Theorien zu machen? Kann das von Ihnen konzipierte Web Based Training (WBT) dabei helfen?
Ich erlebe meine Schüler:innen als sehr diskussionsfreudig, wenn es um die großen Fragen von Politik und Wirtschaft geht. Wie stark soll sich der Staat in wirtschaftliche Abläufe einmischen? Wie viel Freiheit bin ich bereit abzugeben, wenn ich dafür Sicherheit und Wohlfahrt erhalte? Im Moment haben wir die Situation, dass uns das Weltgeschehen viele Ansatzpunkte für solche Fragen liefert. Es ist paradox, aber für die Fächer Politik und Wirtschaft ist das eigentlich ein Geschenk.
Zudem erlebe ich meine Schulklassen als heterogen. Jede bzw. jeder hat ein eigenes Lerntempo und einen eigenen Lernstil. Einige lernen am besten, indem sie Texte lesen, andere profitieren von der Erarbeitung über visuelle Medien wie Videos oder Schaubilder. Es liegt also auf der Hand, Lerntools einzusetzen, die mehrere Dimensionen vereinen und an die Lebenswelt der Lernenden andocken. Man muss auch ehrlich sein: Der Unterricht in der Oberstufe läuft oft noch so ab, dass Texte ausgeteilt, gelesen und zusammengefasst werden. Zu Recht empfinden Schüler:innen das als stupide und langweilig. Ein WBT kann einen hohen Grad der Akzeptanz bei den Lernenden erreichen. Denn sie haben selbst die Kontrolle über den Lernvorgang und können über ihr Lerntempo selbst entscheiden, indem sie Abschnitte z. B. beliebig oft wiederholen. Gerade bei theoretischen Themen ist das ein großes Plus. Vor allem, wenn die Lernenden das WBT mit Hilfe eines eigenen Endgerätes oder im Rahmen eines Flipped-Classroom-Konzeptes zuhause am PC bearbeiten, ist es möglich, dass sie selbstgesteuert ihre eigene Lerngeschwindigkeit bestimmen können. Letzteres ermöglicht sogar die eigene Entscheidung über das „Wann“ der Bearbeitung. So macht auch die sonst als recht „trocken“ empfundene Wirtschaftstheorie im Unterricht Spaß.