Die Wirtschaftspolitik soll dafür sorgen, dass Jobs entstehen, Preise stabil bleiben, die Wirtschaft wächst und die Abhängigkeit von anderen Staaten in Grenzen bleibt. Was aber, wenn das grundlegende Konzept, als „Magisches Viereck“ bezeichnet, inzwischen über 50 Jahre alt ist? Braucht es eine Neuauflage? Die Ökonomen Sebastian Dullien und Till van Treeck sind davon überzeugt. Sie forderten bereits 2012, die vier Ziele des Magischen Vierecks an den Zeitgeist anzupassen und dafür das „Stabilitätsgesetz“ von 1967 zu ändern. Beim Vermitteln der Hintergründe unterstützt das aktuelle Material des Monats. Welche Ideen die beiden Ökonomen verfolgen und ob sie mit ihren Vorschlägen auf Gehör stoßen, erläutert Wirtschaftsjournalistin Miriam Binner.
Schon der Namenszusatz „magisch“ verrät, warum das Viereck Stoff für Debatten liefert – es wären Zauberkräfte nötig, um alle vier Ziele gleichzeitig zu erreichen: Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsgrad, außenwirtschaftliches Gleichgewicht sowie stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum stehen teilweise im Widerspruch. Der bekannteste Zielkonflikt besteht zwischen Preisstabilität und hoher Beschäftigung. Zum Beispiel kann es notwendig sein, die Zinsen zu erhöhen, um Preise zu stabilisieren. Das jedoch macht Investitionen teurer und könnte Unternehmen davon abhalten, neue Stellen zu schaffen.
„Mit diesen Zielkonflikten ist das Magische Viereck didaktisch eines der am besten geeigneten Instrumente, um die Gemengelage in der Wirtschaftspolitik mit den Lernenden genau zu untersuchen“, sagt Hans Jürgen Schlösser, Professor für Wirtschaftswissenschaften und Didaktik der Wirtschaftslehre am Zentrum für ökonomische Bildung der Universität Siegen. „Die Stärke des Magischen Vierecks als Unterrichtsinhalt besteht in seiner klaren Eingrenzung. Mit den vier Zielen können wir klar argumentieren und Konflikte und Verteilungsfragen diskutieren“, so Schlösser.
Wie wirken Eingriffe des Staates in Form von Konjunkturpaketen und Steuern? Und welche Ziele sollten sie wirklich verfolgen? Die Debatten zur Wirtschaftspolitik sind in den Schulen längst fester Bestandteil der Lehrpläne. In den Gymnasien in Nordrhein-Westfalen etwa behandeln Lehrkräfte in den Sozialwissenschaften nicht nur die Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung – mit ihren Vor- und Nachteilen. Diskutiert werden auch die konkreten Auswirkungen in Hinblick auf Einkommensverteilung und Ökologie. In der globalisierten Welt lassen sich auch die wirtschaftspolitischen Entscheidungen anderer Länder und Wirtschaftsverbünde nicht mehr von eigenen Zielen trennen. Über das ursprüngliche Magische Viereck hinaus vermitteln viele Lehrkräfte deshalb inzwischen auch alternative Konzepte.
Die Bundesrepublik Deutschland steckte mitten in der ersten schweren Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit, als am 8. Juni 1967 das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ (StabG) erlassen wurde. Väter des Gesetzes waren der SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller und der CSU-Finanzminister Franz Josef Strauß. Ihre Hoffnung: Der Staat könne es richten – und über Wirtschaftspolitik die vier Ziele ansteuern und zugleich ausbalancieren.
Bis heute definiert das StabG die Leitlinien der Wirtschaftspolitik in Deutschland: „Die Maßnahmen sind so zu treffen, dass sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen“, heißt es in Paragraf Eins. Die Rahmenbedingungen hierfür haben sich in den vergangenen fünf Jahrzehnten jedoch verändert.
Klimawandel, Digitalisierung und internationale Finanz- und Wirtschaftskrisen fordern die Gesellschaft heraus, die Ziele der Wirtschaftspolitik zu überprüfen und gegebenenfalls neu zu definieren. Vor allem Wachstumskritiker verlangen ein Umdenken: Sich nach Wohlstand, sozialer Gerechtigkeit und dem Erhalt von Ressourcen auszurichten, statt permanent auf das BIP-Wachstum zu schauen. So hat sich das Viereck – auch ohne eine Veränderung des StabG – inzwischen faktisch erweitert.
Magisches Sechseck: So gehört der Umweltschutz seit 1994 zusätzlich zu den Zielen der Wirtschaftspolitik, verankert im Grundgesetz in Artikel 20a. Ebenfalls an Bedeutung gewonnen hat das Motiv, für eine gerechte Einkommensverteilung zu sorgen. Der Hintergrund: Eine starke Ungleichverteilung halten manche Ökonomen für einen Ursprung der Finanzkrise. Dementsprechend soll die Wirtschaftspolitik Unterschiede im Einkommen abmildern, wozu auch der 2015 eingeführte Mindestlohn beitragen soll. Eine einheitliche Meinung, was als gerechte Verteilung gelten darf, gibt es freilich nicht.
Sozial-ökologischer Regulierungsrahmen: Ein ganz neues Magisches Viereck schlagen die Ökonomen Sebastian Dullien, Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin, und Till van Treeck, Professor an der Universität Duisburg-Essen, vor. In ihrem Konzeptpapier, das 2012 von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht wurde, stellen sie fest: „Die Debatte über wirtschaftspolitische Ziele in Deutschland ist von einer gewissen Schizophrenie gekennzeichnet.“ Der wirtschaftspolitische Rahmen sei zunehmend entkoppelt von der wahrgenommenen Realität, so die Beobachtung von Dullien und van Treeck.
In diesem wohl prominentesten Vorstoß zur Änderung des StabG formulieren die Wissenschaftler die vier Ziele um. Angestrebt werden müssten: erstens materieller Wohlstand, zweitens ökologische Nachhaltigkeit, drittens soziale Nachhaltigkeit und viertens Zukunftsfähigkeit der Staatstätigkeit und der Staatsfinanzen. „Wir glauben, dass über einen solchen Rahmen Wirtschaftspolitik in Deutschland besser strategisch ausrichtbar wird und leichter normative Wertungen und Ziele diskutiert werden können“, so die Hoffnung der beiden Ökonomen. Nach ihrer Vorstellung sollten die vier Oberziele in detaillierteren Einzelzielen aufgehen – mit überprüfbaren Zielmarken für die Regierung. Antworten für die Öffentlichkeit sollte ein „Jahreswohlstandsbericht“ liefern.
Mit ihrem neuen, nachhaltigen Magischen Viereck haben es Dullien und van Treeck bei SPD und Grünen bis ins Wahlprogramm für die Bundestagswahl 2013 geschafft. Und noch ein Stück weiter: In ihrem Koalitionsvertrag aus demselben Jahr legten Union und SPD fest, das Gesetz auf den Prüfstand zu stellen. Der Sachverständigenrat jedoch lehnte den Vorschlag ab: „Eine solche Reform des Gesetzes würde erhebliche Probleme mit sich bringen, da zur Erreichung dieser Ziele der makroökonomische Instrumentenkasten des bisherigen StabG völlig unzureichend ist“, schreibt das Gremium 2015 in einem Diskussionspapier.
Das Argument: Die Ziele des neuen Magischen Vierecks seien zu umfangreich, um sie mit den vorhandenen Werkzeugen der Wirtschaftspolitiker angehen zu können – darunter etwa Steuererhöhungen bei brummender Konjunktur und höhere Ausgaben zur Stimulierung der Wirtschaft in Schwächephasen. Diese Instrumente sind laut Argumentation des Gremiums vor allem dafür gedacht, zügig und kurzfristig eingreifen zu können. Nachhaltigkeit sei dagegen nur langfristig erreichbar.
Das Urteil der Expertenkommission: „In Anbetracht der Schwierigkeiten ist es nicht sinnvoll, lediglich den Zielkatalog auszuweiten. Man erhielte dann ein Gesetz, dessen Ziele und Instrumente nicht aufeinander abgestimmt sind.“ Eine grundlegende Neufassung auf der Basis eines „neuen magischen Vierecks“ erscheine deshalb nicht zweckmäßig. Bereits in den 1990er-Jahren sind SPD und Grüne mit Initiativen gescheitert, das StabG anzugreifen. Politisch durchsetzen konnte sich damit bisher keiner der Änderungsvorschläge für das Magische Viereck.
Miriam Binner arbeitet als freie Wirtschaftsjournalistin in Köln für Print und Hörfunk. Sie schreibt unter anderem für das Handelsblatt und das Wirtschaftsmagazin t3n. Zudem ist sie als Dozentin an der Kölner Journalistenschule tätig, die sie neben dem Studium der Volkswirtschafts- und Betriebswirtschaftslehre selbst absolviert hat.