Wie treffe ich überlegte Kaufentscheidungen? Ist Werbung Information oder Verführung? Muss der Verbraucher geschützt werden? – Solche Fragestellungen sind in der aktuellen Schulbuchliteratur für die Fächer der ökonomischen Bildung allgegenwärtig. Beim Thema „Konsumentenverhalten“ handelt es sich um einen Unterrichtsgegenstand, mit dem (nahezu) alle Schülerinnen und Schüler konfrontiert werden. Doch wie mächtig ist er denn nun, der Konsument? Diese Frage beleuchtet Prof. Michael Weyland von der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln.
Die neoklassische Perspektive und das Leitbild der „Konsumentensouveränität“
Aus neoklassischer – d. h. auf dem Wirtschaftsliberalismus basierender – Perspektive verfügen die privaten Haushalte in ihrer Gesamtheit über eine erhebliche Nachfragemacht. Durch ihre Konsumentscheidungen beeinflussen sie, welche Güter zu welchen Preisen von Unternehmen angeboten werden. Das Modell des „Homo Oeconomicus“ verkörpert dabei den idealtypischen Akteur der neoklassischen Wirtschaftstheorie. Von individuellen Charakterzügen wird abstrahiert, auch, weil sie relativ schwer erfassbar sind (Typologisierung und Mustererklärung). Homo Oeconomicus lässt sich durch zwei Prinzipien beschreiben:
Erstens bedeutet, dass Homo Oeconomicus nach dem ökonomischen Prinzip entscheidet, sich dabei stets an seiner eigenen Nutzenfunktion orientiert und diese unter den gegebenen Rahmenbedingungen (Restriktionen) maximiert oder ein gegebenes Ziel mit einem Minimum an eingesetzten Ressourcen realisiert.
Zweitens bedeutet, dass die Nutzenfunktion und damit die Vorlieben (Präferenzen) des Homo Oeconomicus als stabil angenommen werden. Das Modell des Homo Oeconomicus ermöglicht Ökonomen eine Mathematisierung komplexer Wirklichkeitszusammenhänge. Als Idealtyp, nützliche Approximation und Als-Ob-Konstruktion ist das Modell von großer Bedeutung für die Theorieentwicklung in den Wirtschaftswissenschaften. In dieser idealen Sicht treffen Konsumenten rationale Entscheidungen vor dem Hintergrund der ihnen stets bewussten Präferenzen und (Budget-) Restriktionen. Da entsprechend der Annahme des vollkommenen Marktes keinerlei Marktzutrittsbarrieren existieren, die Konsumenten vollständig informiert sind und sich stets für das für sie vorteilhafteste Güterbündel entscheiden, lenken sie ungewollt Struktur und Umfang der Produktion und forcieren den Wettbewerb zwischen den Produzenten. Von diesen behauptet sich dauerhaft als Anbieter nur, wer sich bestmöglich an den Kundenwünschen orientiert und innovative Produkte zu kostengünstigen Preisen am Markt etabliert. Das zugehörige Leitbild der „Konsumentensouveränität“ bringt diesen Prozess sehr präzise auf den Punkt. Aus ordoliberaler Sicht („Freiburger Schule“) ist daher Wettbewerb die beste Form der Verbraucherpolitik: Da die Konsumenten selbst rational agieren und über stabile Präferenzen verfügen, liegt es an der Politik, den notwendigen Rahmen zu schaffen (z. B. GWB, Kartellamt, EU-Kommission), so dass die mündigen Verbraucher ihre zielsicheren Entscheidungen unter stabilen Restriktionen treffen und den Prozess der marktwirtschaftlichen Wettbewerbsdynamik in Gang halten.
Die verhaltenswissenschaftliche Perspektive und das Leitbild des „Verbraucherschutzes“
In der Theorie des Konsumentenverhaltens spricht man vom sog. „extensiven“ Kaufverhalten, wenn Entscheidungen unter hoher kognitiver Beteiligung der Konsumenten getroffen werden. Empirische Studien zeigen, dass dieses „rationale“ Entscheidungsverhalten für zahlreiche Konsumentscheidungen charakteristisch ist. Doch darüber hinaus existieren auch ganz andere Entscheidungstypen, die vom Leitbild der „Konsumentensouveränität“ erheblich abweichen und der Frage nach der Macht des Konsumenten mithin eine skeptischere Perspektive verleihen. Hierzu zählen insbesondere limitierte, habituelle oder gar impulsive Kaufentscheidungen. In diesen Fällen weicht das Modell des Homo Oeconomicus so stark von der Wirklichkeit ab, dass alternative Erklärungsansätze für das beobachtete Käuferverhalten notwendig erscheinen. Die Analyse des Konsumentenverhaltens wurde daher um verhaltenswissenschaftliche Erklärungsansätze erweitert. Soziologische Erklärungsansätze beleuchten intensiv die Beziehungen zwischen dem Konsumenten und seiner Umwelt. Hierzu zählen insbesondere der Einfluss von sozialen Gruppen (z. B. Familienentscheidungen; Bezugsgruppen-Modell) sowie die beeinflussenden Wirkungen der Massenkommunikation (z. B. Influencer-Marketing; Meinungsführer-Modell). Psychologische Erklärungsansätze gehen noch einen Schritt weiter und untersuchen das Innenleben der Konsumenten. Dabei werden aktivierende und kognitive Prozesse unterschieden. Der genannten Zweiteilung entspricht eine gewisse Schwerpunktbildung in der Konsumentenforschung. Die kognitiv geprägte Schule betrachtet Konsumentenverhalten primär als das Ergebnis von aktiven, "rationalen" Entscheidungsprozessen, in deren Verlauf Informationen aufgenommen, verarbeitet und gespeichert werden. In der aktivierungstheoretisch orientierten Forschungsrichtung wird das Konsumentenverhalten hingegen als passiv reagierendes, "irrationales" Verhalten untersucht. Das zugehörige Leitbild des „Verbraucherschutzes“ geht dementsprechend von geringeren Erwartungen an die Fähigkeiten der Konsumenten aus, deren Entscheidungskapazität als deutlich eingeschränkt angesehen wird – was eine Stärkung verbraucherpolitischer Schutzmaßnahmen nahelegt. Diesem Ziel dienen neben zahlreichen gesetzlichen Regelungen auch Verbraucherschutz-Organisationen, Verbraucherinformationen, Verbraucherberatung, staatliche Verbraucherschutzvorschriften sowie Produktkennzeichnungen. Diese Instrumente tragen dazu bei, dass die Konsumenten vor gefährlichen Produkten, irreführender Werbung, unüberlegten Vertragsabschlüssen und der Marktmacht einzelner Anbieter geschützt werden.
Die verhaltensökonomische Perspektive und das Leitbild der „Verbraucherbildung“
Zwischen den beiden hier diskutierten „Lagern“ bestand lange Zeit eine gewisse Sprachlosigkeit, die sich auch in der Fach- und Schulbuchliteratur widerspiegelt. Über die Frage, wie groß die Macht des Konsumenten ist, lässt sich daher streiten. Neue Dynamik gewonnen hat dieser Streit durch die verhaltensökonomischen Erkenntnisse der letzten 20 Jahre. Verhaltensökonomen forschen experimentell zu der Frage, wie Menschen Entscheidungen treffen. Als Ökonomen fühlen sie sich den wirtschaftswissenschaftlichen Grundlagen ihrer Disziplin verpflichtet; als Verhaltenswissenschaftler („Behavioral Economics“) greifen sie zugleich auf die wesentlichen Erkenntnisse und das reichhaltige Methodenrepertoire der Psychologie zurück – auch wenn hinsichtlich der Experimentaldesigns, der Experimentdurchführung und der Auswertung der Daten Unterschiede bestehen. Kurzum: „Ökonomisches“ und „experimentalpsychologisches“ Denken werden in der Verhaltensökonomik integriert, was zu beeindruckenden wissenschaftlichen Erkenntnissen bis hin zu Nobel-Gedächtnispreisen geführt hat. Zu den wichtigsten Erkenntnissen der Verhaltensökonomik zählt die Tatsache, dass Menschen begrenzt rational entscheiden und sich dabei mehr oder weniger bewährter Heuristiken bedienen. Verbraucher sind also durchaus zu rationalem Verhalten fähig; diese Rationalität kann aber durch beeinflussende Rahmenbedingungen (Framingeffekte) und Präferenzen (soziale Präferenzen, Zeitpräferenzen, Risikopräferenzen) ganz erheblich beeinträchtigt werden. Die Verhaltensökonomik weist den Weg hin zum Leitbild der „Verbraucherbildung“: Der mündige Verbraucher hat – als vernunftbegabtes Wesen – einerseits die Pflicht, seinen Konsum eigen- und sozialverantwortlich zu gestalten. Andererseits hat er ein Recht auf Schutz und Unterstützung. Neben den bereits bestehenden Instrumenten des Verbraucherschutzes sollte eine verhaltensökonomisch fundierte Verbraucherbildung in den Schulen zukünftig dazu beitragen, dieses Recht auf Schutz und Unterstützung zu gewährleisten.