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Ist die Globalisierung aus den Fugen geraten?

Die Globalisierung hat vielerorts Wohlstand gebracht und dafür gesorgt, dass Produkte für mehr Menschen erschwinglich wurden. Doch der weltweite Handel führt unter Staaten auch zu neuen Machtverhältnissen. Ist der Frieden dadurch bedroht? Wie die wirtschaftliche Globalisierung auf Märkte, geopolitische Interessen und Gesellschaften einwirkt, zeigt Wirtschaftsjournalist Andreas Schulte am Beispiel der Chipindustrie.

Die Hoffnungen der Chipindustrie in Deutschland ruhen auf Magdeburg. Im nächsten Jahr wird der Hersteller Intel hier den Grundstein für seine Gigafabrik legen. Die Domstadt soll ein Zentrum der europäischen Chipindustrie werden. 17 Milliarden Euro fließen nun an Investitionen. 10.000 Arbeitsplätze sollen in den insgesamt acht Werken im Gewerbegebiet Eulenberg entstehen. Noch vor dem ersten Spatenstich ist der Jubel groß. Die hochmoderne Fabrik sei ein „Quantensprung” für die Wirtschaft, sagte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff anlässlich der Bekanntgabe des Vorhabens im März dieses Jahres.

Aber warum baut Intel eigentlich ausgerechnet hier, ausgerechnet in Deutschland, wo Löhne um ein Vielfaches höher sind als in Fernost? Von dort kommen bereits 70 Prozent aller Chips, und eine Infrastruktur für die Produktion ist an vielen Orten bereits vorhanden.

Es wäre für den US-Hersteller leicht, eine weitere Produktion zum Beispiel in China hochzufahren. Doch das US-Unternehmen argumentiert auch politisch: „Es geht bei der Fertigung von Chips nicht nur um die Befriedigung der Nachfrage, sondern auch um geostrategische Interessen”, sagt Intels Deutschland-Chefin Christin Eisenschmid.

Damit beschreibt die Managerin indirekt auch die derzeitigen Herausforderungen der Globalisierung. Denn ob Fertigungsfirmen von Autoteilen, Medikamenten oder eben Computerchips – die Coronakrise und die mit ihr verbundenen Lieferengpässe haben die lange bestehende Abhängigkeit der westlichen Welt von Märkten in Fernost schonungslos aufgedeckt. In vielen Branchen versuchen Politik und Wirtschaft das Rad der Globalisierung derzeit zurückzudrehen und Lieferketten krisensicher zu gestalten. Gerade bei Mikrochips wird dies besonders deutlich.

Ohne Chips geht kaum mehr etwas

Die kleinen Grundbausteine der Digitalisierung sind für fast alle Artikel des täglichen Gebrauchs unverzichtbar geworden: ohne Chips keine medizinischen Geräte, keine Autos, keine Handys. Jüngstes Beispiel: Die Krankenkasse AOK Nord-West konnte noch im Juli wegen akuten Chipmangels rund 400.000 Kund:innen keine neue Versichertenkarte ausstellen. Ein Hauptgrund dafür: Asiatische Fertigungsfirmen können die aufgestaute Nachfrage nach Chips im Anschluss an die Pandemie nicht decken.

Mit den wenigen vorhandenen Produkten bedienen die asiatischen Fertigungsfirmen bevorzugt die Heimatmärkte. „Halbleiter sind ein Schlüssel zur Macht”, sagt Antonia Hmaidi Wissenschaftlerin am Mercator Institut for China Studies.

Die USA, China und andere Mächte haben das längst erkannt. Es drohen internationale Konflikte um die weltweite Versorgung mit Mikrochips. So kommt etwa ein Drittel aller benötigten Mikrochips aus Taiwan. Die Insel ist zum Spielball der Großmächte geworden. Schon seit Jahrzehnten erhebt China Anspruch auf den benachbarten Inselstaat, obwohl Taiwan nie Teil der Volksrepublik war.

US-Präsident Joe Biden hat Taiwan Ende vergangenen Jahres Waffenhilfe zugesichert für den Fall einer chinesischen Intervention. „Käme es zu einem Angriff, hätte das katastrophale Folgen, auch für unsere Wirtschaft“, sagt der deutsche Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff. Die Globalisierung hat die Zündschnur für den Ausbruch eines Krieges verkürzt.

Dies hatten Unternehmen freilich nicht im Sinn, als der freie Welthandel ab den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts plötzlich rasant an Fahrt aufnahm. Der Zusammenbruch des sogenannten Ostblocks, die beginnende Digitalisierung und verbesserte Transportmöglichkeiten hatten ihnen neue Chancen eröffnet.

Unternehmen produzieren nicht mehr dort, wo die Kunden oder die Rohstoffe sind, sondern da, wo es am billigsten ist. Industrieländer profitierten am meisten von dieser Entwicklung. Ihre Unternehmen konnten fortan günstig im Ausland produzieren und günstig importieren. So wurden gerade in Europa viele Produkte für mehr Menschen erschwinglich.

Globalisierung zu Lasten der Arbeiter:innen

Die Globalisierung nährte aber auch in jenen Ländern den Wohlstand, wo billig produziert wurde. Seit 1991 ist zum Beispiel Chinas Wirtschaftswachstum bis zum Zeitpunkt der Coronakrise nie signifikant unter sechs Prozent gesunken. Die IT-Industrie des Landes avancierte in den frühen Nullerjahren schnell zur Exportbranche Nummer eins und beschäftigte fast acht Millionen Menschen. Doch der allgemeine Aufschwung Chinas und anderer produzierender Länder lastet bis heute auf den Schultern einer geknechteten Arbeiter:innenschaft.

Und auch in den Industrienationen führte die Globalisierung bald zu gesellschaftlichen Umwälzungen. 1990 betrug der Anteil der USA an der weltweiten Chipproduktion noch 37 Prozent. Heute sind es nur noch rund zwölf. Der Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation WTO im Jahr 2001 – und der damit verbundene Wegfall von Handelsbeschränkungen – habe zu einer De-Industrialisierung in anderen Ländern geführt, heißt es in einer Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT). Dies habe allein in den USA 2,5 Millionen Industriearbeiter:innen den Job gekostet.

Abhängigkeiten verringern

Mittlerweile überdenken westliche Regierungen ihre Globalisierungspolitik. „Die De-Globalisierung ist ein Holzweg“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz beim Weltwirtschaftsforum in Davos im Mai dieses Jahres. Denn den Preis für Handelsschranken würden Unternehmen, Arbeitnehmer:innen und Verbraucher:innen zahlen. Aber die Abhängigkeit von anderen Staaten will der Kanzler verringern. „Wir wollen Deutschland zum globalen Standort der Halbleiter-Industrie machen", heißt es im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung.

Allein in diesem Jahr unterstützt die Regierung den Bau der ersten beiden Intel-Fabriken in Magdeburg mit 2,7 Milliarden Euro, weitere Milliarden Euro werden in den kommenden Jahren vom Bund bereitgestellt.

In den USA hat Präsident Joe Biden ein Gesetz eingebracht, durch das die dortige Chipindustrie mit 52 Milliarden Dollar unterstützt werden soll. Nehmen Firmen diese Subventionen in Anspruch, dürfen sie allerdings nicht in China investieren.

Ein rasches Ende der Abhängigkeit von anderen Staaten dürfte die neue Politik aber nicht bedeuten. Denn die Chipproduktion ist aufwändig. Für jeden einzelnen Chip werden fünfzig Maschinen und mehrere hundert Chemikalien benötigt. Auch die müssen auf verschiedenen Märkten eingekauft werden. „Man wird es nicht schaffen, die komplette Produktion von allem, was wichtig ist, nach Europa zurückzuholen”, sagte Christian Rusche, Experte beim Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), Anfang August im Interview mit dem Merkur. „Vorbei ist aber die Zeit, in der man sich auf einen einzigen Lieferanten verlassen hat.”

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