Klimawandel und Artensterben sind aktueller denn je. Daran, dass sowohl gesellschaftliche als auch wirtschaftliche Änderungen erfolgen müssen, besteht kein Zweifel mehr. Dr. Florian Hofmann von der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg, Fachgebiet Technik- und Umweltsoziologie, diskutiert in Anlehnung an das Material des Monats das „grüne Wachstum“ und blickt auf neue Wege der Ökonomie.
Das industrielle Wirtschaftsparadigma der vergangenen ca. 200 Jahre ist eine wesentliche Säule für die Zunahme des materiellen Wohlstands, für die Entwicklung und Aufrechterhaltung sozialer Absicherungssysteme sowie für die Herausbildung demokratischer Gesellschaftsordnungen in den Nationen des Globalen Nordens. In den letzten Jahren verzeichnen zudem auch vereinzelte Länder des Globalen Südens (v. a. China, Indien, Indonesien) ein kontinuierlich überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum (trotz der wirtschaftlichen Implikationen der COVID-19-Pandemie, mit Ausnahme von 2020), sodass im Jahr 2030 von einer fünf Milliarden Menschen umfassenden globalen Mittelschicht (wovon der herausragende Teil aus Bürger:innen des Globalen Nordens besteht) ausgegangen wird. Die daraus resultierende Tendenz eines weltweit steigenden Konsumniveaus wird vermutlich zu einer Zuspitzung der globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts führen, die sich u. a. in Form des Klimawandels, des Biodiversitätsverlusts oder der Verknappung natürlicher Ressourcen ergeben.
Die Idee des „grünen Wachstums“
Ausgehend von diesen Herausforderungen bringt eine Großzahl an Ökonom:innen, Politiker:innen und Unternehmer:innen die Idee des „Grünen Wachstums“ hervor, die z. B. im European Green Deal eine prominente Rolle einnimmt. Grünes Wirtschaftswachstum dient als Leitmotiv einer angestrebten ökologischen Modernisierung; technologische Innovationen sollen eine Effizienzrevolution auslösen, um wirtschaftliche Expansion bzw. wirtschaftliches Wachstum von Ressourcenverbrauch und Naturzerstörung zu entkoppeln. Eine vielzitierte und an wirtschaftswissenschaftlichen Universitätsfakultäten sowie im ökonomischen Mainstream oft verwendete Argumentation zur Legitimation des grünen Wirtschaftswachstums beruht auf der Umwelt-Kuznets-Kurve, wonach das Wirtschaftswachstum die ökologischen Probleme, die es verursacht hat, zu einem späteren Zeitpunkt wieder auflöst bzw. beseitigt. D. h. die aktuellen Konsum-/Produktionsformen sollen durch ökologisch orientiere Produkt- und Geschäftsmodellinnovationen von innen heraus, also aus der Wirtschaft selbst heraus, aufgebrochen werden, sodann sich eine Spirale aus umweltfreundlichem technologischem Fortschritt formiert, die grünes Wirtschaftswachstum ermöglicht.
Nur bleibt die Frage, ob die Formel eines grün eingefärbten Wirtschaftswachstums ausreicht, um die notwendigen Transformationsprozesse an den Produktions- und Konsumsystemen anzugehen. Das wahrscheinlich größte Problem, (grünes) Wirtschaftswachstum als gesellschaftlichen Leitindikator zu nutzen, besteht darin, dass es in Politik, Wirtschaft, Unternehmen und ökonomischer Ausbildung zu eindimensionalem Denken über Wohlstand führt: die Anwendung rein quantitativer Parameter zur Bewertung des Zustands einer Volkswirtschaft, die Gleichsetzung von Lebensqualität mit materiellem Reichtum und die instrumentelle Sichtweise auf die natürliche Welt, die als reiner Produktionsfaktor fungiert und zunächst in monetären Werten quantifiziert werden muss, damit sie als schützenswert erscheint. Trotz der herausragenden gesellschaftlichen Errungenschaften, die uns die permanente Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIPs) bescherte (wovon hauptsächlich die Menschen im Globen Norden profitierten), führte es uns zugleich in ein Zeitalter der globalen klimatischen Veränderungen, in ein Zeitalter des sechsten großen Artensterbens in der Erdgeschichte.
John Stuart Mill, einer der einflussreichsten politischen und ökonomischen Philosophen des 19. Jahrhunderts, schrieb, dass die Wirtschaft „nicht als ein Ding für sich [steht], sondern als Fragment eines größeren Ganzen, als ein Zweig der sozialen Philosophie, welcher so verwoben [ist] mit allen anderen, dass seine Folgerungen selbst auf dem ihm eigenen Gebiet nur bedingt wahr und der Einmischung und Gegenwirkung von Ursachen unterworfen sind, die nicht unmittelbar in ihrem Bereich liegen“. Soll heißen, dass die Ökonomie in ein gesellschaftliches Ganzes eingebettet ist, das wiederum von den ihr umgebenen intakten Ökosystemen und Naturbedingungen abhängig ist. Danach gilt es, den gegenwärtigen Leitindikator für gesellschaftlichen Wohlstand, der in der stetigen Steigerung des Gesamtwerts aller in einer Volkswirtschaft hergestellten Waren und Dienstleistungen seinen Ausdruck findet, zu hinterfragen.
Die Donut-Ökonomie als Kompass für zukunftsfähiges Wirtschaften?
Ein zurzeit viel beachtetes Konzept, , ist die von der britischen Wirtschaftswissenschaftlerin Kate Raworth entwickelte Donut-Ökonomie. Ziel der Donut-Ökonomie ist es, ein agnostisches Verhältnis zum Wirtschaftswachstum einzunehmen und zu einem umfassenderen Set an Leitindikatoren für gesellschaftlichen Fortschritt zu gelangen. Wohlstand lässt sich nur durch die Einhaltung planetarer Grenzen und die Absicherung verbindlicher sozialer Standards erreichen, der sich als Donut visualisieren lässt. Die planetaren Belastungsgrenzen definieren dabei die „ökologische Decke“, die nicht überschritten werden darf (der äußere Rand des Donuts), während das „gesellschaftliche Fundament“ aus sozialen Standards besteht, die nicht unterschritten werden sollten (der innere Rand des Donuts). Zwischen gesellschaftlichem Fundament und ökologischer Decke entsteht ein „safe and just operating space“, innerhalb dessen die Menschheit sich fortentwickeln und wirtschaften kann (der Ring des Donuts). Das Set aus Leitindikatoren zur Messung von Wohlstand besteht aus neun ökologischen Kennzahlen, wie z. B. Biodiversitätsverlust, Süßwasserverknappung oder Flächenumwandlung, sowie zwölf sozialen Kennzahlen, die u. a. Nahrungssicherheit, Bildung, Zugang zu sauberem Trinkwasser, politische Teilhabe oder soziale Gerechtigkeit miteinschließen. Selbstverständlich kann die ungenaue Aussagefähigkeit oder die nicht ausbalancierte Vergleichbarkeit der herangezogenen Indikatoren kritisiert werden, dennoch eröffnet der Donut als Leitindikatoren-Set einen Weg, der die Komplexität der Welt des 21. Jahrhunderts und ihre zusammenhängenden Herausforderungen aufgreift.
Einen weiteren wertvollen Beitrag, den das Konzept der Donut-Ökonomie leistet, ist die Skizzierung eines normativen Kompasses ökonomischen Denkens und Handelns. D. h. der „Donut“ fungiert nicht nur als Schablone zur Beobachtung und Bewertung von Fortschritt und Nicht-Fortschritt einer Gesellschaft, sondern er schlägt ebenfalls Ansätze zur Ausrichtung wirtschaftlicher Performance vor. Ein prägnanter Ansatz ist, wie bereits oben erwähnt, Unabhängigkeit vom klassischen Wirtschaftswachstum zu erlangen. Eine unabhängige Haltung zum BIP einzunehmen, bedeutet nicht, dass sozialökologisch ausgelegte Innovationen ökonomisch nicht wachsen sollen, sondern es geht eher darum, neue kreativitätsfördernde Freiräume zu schaffen, um die gegenwärtig eindimensionale Wachstumserzählung zu überwinden. Um sozialökologische Unternehmenspioniere aus ihrem Nischendasein herauszuholen und auf das Level des Mainstreams zu hieven, müssen sie sogar ökonomisch expandieren. Was wiederum einen beträchtlichen Machtverlust für jene Akteur:innen bedeutet, die von den heutigen Wirtschaftsstrukturen übermäßig profitieren.
Schlussendlich verdeutlicht uns das Konzept des Donuts, dass Wirtschaft sozial gerecht gestaltet und an die ökologischen Gegebenheiten des Planeten Erde ausgerichtet werden muss, andernfalls gehören demokratische Gesellschaftsordnungen und ihre Errungenschaften zukünftig der Vergangenheit an.
Material des Monats: Nachhaltige Wirtschaftsmodelle – wie wollen wir in Zukunft wirtschaften?
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