Die Digitalisierung ist eine der größten Entwicklungen, die wir derzeit erleben. Die Mär vom Roboter, der Arbeitsplätze ersetzt und für Beschäftigungsabbau sorgt, bewahrheitet sich aktuell nicht. Stattdessen wird oft positiv auf Digitalisierungsberufe geschaut: Was digital ist, hat Zukunft. Sollte diese Annahme in der Berufsorientierung aufgegriffen werden und den Jugendlichen als Leitplanke an die Hand gegeben werden? Paula Risius, Researcher für digitale Bildung und Fachkräftesicherung am Institut der deutschen Wirtschaft, widmet sich in ihrem Artikel dieser Frage.
Die Digitalisierung betrifft Berufe in unterschiedlicher Weise. Einerseits ist der digitale Wandel der Arbeitswelt ein Querschnittsthema und zeigt sich überall: Die Anwendung fachspezifischer Software gehört mittlerweile ebenso zum Arbeitsalltag wie die Kommunikation über digitale Kanäle, Online-Recherche, aber auch Datenschutz-Kenntnisse. Zwar ist die Digitalisierung nicht nur Chance, sondern bringt auch das Risiko mit sich, dass Künstliche Intelligenzen Tätigkeiten im Berufsalltag übernehmen werden. Die Sorge, dass ganze Berufe wegfallen, erscheint jedoch – obwohl ein Effekt auf den Beschäftigungszuwachs besteht – unwahrscheinlich: Unternehmen schöpfen die Möglichkeiten, menschliche Arbeit zu ersetzen, aus ethisch-moralischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, ökologischen und weiteren Gründen derzeit nicht aus, wie Grienberger, Matthes und Paulus (2024) ausführen. Stattdessen verändern sich viele Berufe, manche auch stark, wodurch das sogenannte Substituierbarkeitspotenzial sogar sinken kann. Einige Tätigkeiten werden zukünftig digitalisierungsbedingt wegfallen oder im Umfang abnehmen, andere wer-den wichtiger oder kommen neu hinzu. Insbesondere Selbst- und Sozialkompetenzen gewinnen beispielsweise an Gewicht. Somit betrifft die Digitalisierung letztlich alle – und folglich sollte auch lebenslanges Lernen für alle zum Arbeitsleben dazugehören.
Einige Beschäftigte jedoch greifen nicht nur auf die Möglichkeiten der Digitalisierung zurück, sondern erweitern sie oder schaffen sie neu. Sie arbeiten in sogenannten Digitalisierungsberufen, die zwar im Schwerpunkt IT-Fachkräfte umfassen, jedoch breit gefächert sind. Auf diese Berufe soll nun ein intensiverer Blick geworfen werden. In einer Studie nutzt Burstedde (2020) zur Abgrenzung der Digitalisierungsberufe drei Tätigkeitsbereiche: Die Datenverarbeitung bzw. Softwareentwicklung, die Vernetzung, Hardware-Herstellung und Automatisierung sowie die Virtualisierung, also die Abbildung analoger Prozesse im digitalen Raum (z.B. VR-Anwendungen, digi-tale Zwillinge). Zu den so eingegrenzten Berufen gehören neben IT-Berufen auch Computerlinguist:innen, Mikrosystemtechniker:innen, Elektrotechnik-Fachkräfte und Mediengestalter:innen für Digital und Print.
In diesen Digital-Berufen fehlen die meisten Fachkräfte
Dass Digitalisierungsberufe gefragt sind, zeigt sich am Arbeitsmarkt. So ist die Anzahl offener Arbeitsstellen in den letzten Jahren stärker gestiegen als in anderen Berufen. Diese Stellen zu besetzen ist schwieriger als in Nicht-Digitalisierungsberufen. Abbildung 1 zeigt, in welchen Digitalisierungsberufen aktuell die meisten Fachkräfte fehlen. Die Bezeichnungen „Expert:in“ und „Fachkraft“ stammen dabei aus der Arbeitsmarktstatistik. Expert:innen bringen in der Regel einen Studienabschluss mit, Fachkräfte sind zumeist Beschäftigte mit einem Ausbildungsabschluss. Besonders schwierig gestaltet sich aktuell die Suche nach Bauelektrik-Fachkräften und Informatik-Expert:innen: Jeweils über 17.000 offene Stellen konnten zuletzt nicht besetzt werden. Damit gehören diese Berufe auch gesamtwirtschaftlich zu den Berufen mit den gravierendsten Fachkräftelücken.
Abbildung: Die zehn Digitalisierungsberufe mit den größten Fachkräftelücken in Deutschland
Quelle: IW-Fachkräftedatenbank, 2024, gleitender Jahresdurchschnitt zum 30.06.2023
Eine Möglichkeit, Fachkräfteengpässen entgegenzusteuern, ist die Qualifizierung von Jugendlichen mittels dualer Ausbildungen. Diesen Weg nutzen Unternehmen bereits verstärkt: zwischen 2011 und 2022 erhöhten Unternehmen die Zahl an Ausbildungsplätzen in Digitalisierungsberufen um mehr als zehn Prozent. Dass sich das Ausbildungsplatzangebot in anderen Berufen zeitgleich in ähnlichem Maße reduzierte, weist darauf hin, dass Unternehmen auch in Zukunft einen erhöhten Fachkräftebedarf in jenen Berufen sehen, die die Digitalisierung vorantreiben.
Dem Trend folgen – aber welchem?
Digitale Berufe bieten somit im Gesamtbild eine sehr gute Beschäftigungsperspektive. Auch in Zukunft ist mit Fachkräftelücken zu rechnen, wie Prognosen zeigen. Von daher erscheint es einleuchtend, Jugendlichen in der Berufsorientierung die Potenziale dieses Tätigkeitsbereichs zu erläutern und ihnen zugleich näherzubringen, wie vielfältig die benötigten Qualifikationen sind. Das gilt insbesondere für junge Frauen, denn nur 16,5 Prozent der Beschäftigten in Digitalisierungsberufen, die eine berufliche Qualifikation voraussetzen, waren Ende 2022 weiblich.
Aber: Die Zukunft ist nicht nur digital, denn es kommen mehrere Disruptionen zusammen. Auch der ökologische Wandel und die De-Globalisierung stellen Wirtschaft und Gesellschaft vor Herausforderungen. Jugendliche orientieren sich bereits zunehmend in Berufe, die die gesellschaftlich drängenden Fragen bearbeiten: In einer Studie von Hickmann und Kolleginnen (2022) zeigt sich, dass trotz des Rückgangs an Ausbildungsinteressierten einige Berufe einen kontinuierlichen Zuwachs an Bewerber:innen verzeichnen. Hierunter fallen Fachkräfte für Sanitär, Heizungs- und Klimatechnik, die unter anderem Wärmepumpen verbauen, aber auch einige Bauberufe, die zur Schaffung neuen Wohnraums benötigt werden. Auch hier werden mehr Fachkräfte gesucht als der Arbeitsmarkt aktuell bereit hält.
Gleichzeitig drängen die Fragen, die der demografische Wandel mit sich bringt: Es braucht unter anderem mehr Pflegekräfte, die kranke und alte Menschen betreuen. Doch in der Pflege fehlen, wie auch an Schulen und in Kitas, Fachkräfte. Es braucht mehr Pfleger:innen, Erzieher:innen und Lehrkräfte – um gute Bildung bzw. menschenwürdige Pflege zu gewährleisten, aber auch, um Eltern und Angehörige zu entlasten, ihre Teilhabe am Arbeitsmarkt zu ermöglichen und so den Fachkräftemangel in anderen Bereichen zu lindern.
Berufsorientierung in Zeiten multipler Disruptionen
Fachkräfte fehlen also an vielen Stellen – in Digitalisierungsberufen, in Berufen des ökologischen Wandels, in Pflege- und Sozialberufen und in vielen weiteren Berufen. Im Rahmen der Berufsorientierung machen sich Schüler:innen ein erstes Bild davon, was sie zu Wirtschaft und Gesellschaft beitragen können und wollen. Die Berufswahlmöglichkeiten sind dabei ebenso vielfältig wie die Talente und Interessen der Jugendlichen. Eine umfassende Berufsorientierung sollte adressieren, in welchen Bereichen Beschäftigte gebraucht werden und junge Menschen unabhängig von gängigen (Geschlechter-)Klischees gleichberechtigt informieren.
Als „Wegweiser“ für die Berufswahl kann der Blick auf den Arbeitsmarkt, aber auch auf die drängenden Aufgaben unserer Zeit hilfreich sein. Aus beiden Perspektiven erscheinen Digitalisierungsberufe als eine gute Wahl für die berufliche Zukunft. Obwohl auch in anderen Bereichen dringend Fachkräfte gesucht werden, kann es nur nützen, die Digitalisierung im Rahmen der Berufsorientierung zu thematisieren. Dabei ist es wichtig, zu betonen: Egal, ob man sich für einen Digitalisierungsberuf entscheidet oder nicht, an der digitalen Transformation unserer Wirtschaft und Gesellschaft ist kein Vorbeikommen. Sie impliziert, dass Beschäftigte mehr Verantwortung bekommen und dass sich Tätigkeiten fortlaufend weiterentwickeln. Dadurch erfordert sie für alle ein Mehr an Selbstorganisation, an Sozialkompetenzen, aber auch an kontinuierlichem Dazulernen. Die Berufswahl ist der Anfang – „man lernt nie aus“ gilt heute jedoch mehr als je zuvor.
Material des Monats: Arbeiten 4.0 – wie sieht die zukünftige Arbeitswelt aus?
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