Ein Land, eine Zahl: Das BIP beschreibt seit vielen Jahren den Wohlstand von Nationen. Doch je komplexer die Welt wird, desto schärfer wird die Kritik: Kann die Kennzahl heutzutage wirklich alle relevanten Einflüsse in einer Volkswirtschaft abbilden – von ökologischen Belastungen bis hin zu digitalen Dienstleistungen? Mit dieser Frage beschäftigt sich auch das Material des Monats der Sekundarstufe II. Wissenschaftler:innen weltweit suchen nach alternativen Methoden, Länder wirtschaftlich zu vermessen. Doch neben neuen Zahlen stoßen sie vor allem auf zusätzliche Schwierigkeiten, analysiert Wirtschaftsjournalist Manuel Heckel.
Es geht eigentlich nur um die Zahl hinter dem Komma: Der Sachverständigenrat der Bundesregierung rechnet damit, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in diesem Jahr um 3,1 Prozent steigt. Das Münchener ifo-Institut geht von 3,3 Prozent aus. Und die Forscher am Institut für Weltwirtschaft in Kiel erwarten sogar ein Plus von 3,7 Prozent. Sie alle rätseln über die Entwicklung der prominentesten Kennzahl, um den Wohlstand von Nationen zu definieren: Das Bruttoinlandsprodukt beschreibt, welchen Wert die Waren und Dienstleistungen haben, die eine Volkswirtschaft innerhalb ihrer Grenzen in einem Jahr geschaffen hat. Die Veränderungsrate gibt an, um wie viel dieser Wert gewachsen oder geschrumpft ist – in einem Quartal oder in einem Jahr.
Schon die Zahl hinter dem Komma kann einen Unterschied von mehreren Milliarden Euro an Wertschöpfung ausmachen. Zehn Jahre etwa ging es von 2010 an in Deutschland bergauf. Im Corona-Jahr 2020 dann stürzte die Volkswirtschaft hierzulande ab: Preisbereinigt ging es um 4,8 Prozent nach unten.
Diese Kennzahl hat keineswegs nur einen statistischen Wert. Für Unternehmen ist das BIP, dessen Veränderung oder Prognosen für die kommenden Monate wichtig, um zu wissen, ob sie sich große Investitionen zutrauen – oder welche Länder als Exportziel interessant sein könnten.
Für die Politik dient die Entwicklung des BIP als Treiber und als Taktgeber. Wenn das BIP sinkt – nach zwei Quartalen mit Rückgängen sprechen Ökonom:innen von einer Rezession – werden von der Regierung dringend Gegenmaßnahmen erwartet. Mit steigenden Wachstumsraten hingegen lässt sich in Wahlkämpfen glänzen. Daher ist das Interesse von Medien und Öffentlichkeit groß, wenn das BIP offiziell bekanntgegeben wird oder Institute ihre Prognosen verkünden.
Kleine Zahl, große Kritik
Viel Verantwortung für eine einfache Zahl. Die größten Vorteile der Kennzahl sind schnell gefunden: Sie ist einfach zu berechnen. Sie ist klar der Öffentlichkeit zu vermitteln: mehr ist gut, weniger ist schlecht. Und sie ist global zum Standard geworden, seit sie Ende der 1930er-Jahren in den USA definiert wurde – das erleichtert die Vergleichbarkeit. In einer vernetzten Wirtschaftswelt lässt sich über diese Werte eindeutig feststellen: Wer ist arm und wer ist reich, wer holt auf und wer wird global abgehängt?
Dennoch gibt es schon seit vielen Jahren immer wieder Kritik am BIP. Zusammenfassen lassen sie sich auf eine einfache Formel: Die reine Addition von Produktionsleistungen oder Ausgaben von Privathaushalten, Staat und Unternehmen reicht nicht aus, um umfassend den Wohlstand eines Landes abzubilden. Es zeige sich, „in Gesellschaften mit einem hohen Pro-Kopf-Einkommen, dass sich Zufriedenheit und materieller Wohlstand ab einem gewissen Schwellenwert entkoppeln“, schrieb Bundestagsabgeordnete Daniela Kolbe als Vorsitzende der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ bereits 2013 im Abschlussbericht. „Wohlstand in einem ganzheitlichen Sinn bedeutet für Menschen eben weit mehr als immer mehr materieller Wohlstand“.
Je komplexer die Welt, desto unpräziser das BIP
Gerade in der Corona-Krise lässt sich erkennen, wie kompliziert der Absolutheitsanspruch der Kennzahl ist. Wenn sich ökonomische Realitäten – etwa durch die Schließung von Grenzen oder Geschäften – im Wochentakt verändern können, kann das behäbige BIP kaum hinterherkommen. Zudem bildet es die Wirtschaft in ihrer Gesamtheit ab. Das ist hilfreich, solange die Branchen einigermaßen im Gleichschritt marschieren. Im vergangenen Jahr aber dürften Gastronom:innen und Veranstalter:innen deutlich mehr als nur fünf Prozent Rückgang verzeichnet haben, während der Lebensmitteleinzelhandel ein Plus erwirtschaftet. In diesem Fall hat das BIP nur noch eine statistische Aussagekraft – der Wohlstand entwickelte sich jedoch innerhalb der Gesellschaft äußerst unterschiedlich. Wie sich dieser Wohlstand innerhalb eines Landes verteilt, darüber sagt das BIP nichts aus.
Dazu kommt eine weitergehende Entwicklung: Einige Branchen, die zunehmend für die Wertschöpfung relevant sind, lassen sich mit den traditionellen Instrumenten der BIP-Berechnung kaum fassen. Ein Beispiel: Die Digitalisierung sorgt in vielen Lebensbereichen für einen Produktivitätsschub. Mit dem Smartphone lassen sich Bilder in exzellenter Qualität erzeugen, zugleich ist das Wissen der Welt über Google oder Wikipedia nur einen Klick entfernt. Im BIP, das auf produzierte Güter schaut, fehlen dadurch die Ausgaben für Fotokameras ebenso wie für gedruckte Lexika. Welchen Mehrwert durch zusätzliche Bilder und vernetztes Wissen hingegen geschaffen wird, lässt sich kaum in eindeutigen Zahlen messen. Das ist auch das Problem, wenn es darum geht,inwieweit Unternehmen durch Software heute deutlich effizienter arbeiten. „Es gibt keine amtlichen Daten, die die Digitalisierung von Prozessen in der Wirtschaft messen“, halten etwa Forscher:innen des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW Köln) in einem Beitrag aus diesem Jahr fest.
Kein Platz für die echte Welt
Doch es gibt noch grundsätzlichere Kritik am BIP. So ist die Kennzahl blind für viele Tatsachen der realen Welt. Ein aktuelles Beispiel: Die aktuellen Hochwasserschäden in NRW oder Rheinland-Pfalz sorgen zwar auch dafür, dass die Produktivität der dort betroffenen Betriebe sinkt. Insgesamt jedoch könnte der Einfluss auf das BIP positiv sein – weil zerstörte Häuser, Straßen und Bahnlinien für ein monate- und jahrelanges Umsatzwachstum bei Baubetrieben sorgen.
Im größeren Kontext gilt das auch für langfristige Umweltschäden. Kurzfristig kann der Einsatz von Düngern oder der Bau von Kohlekraftwerken etwa für einen Schub bei der Produktivität sorgen. Doch die Kosten, die für die Reinigung von Grundwasser oder Luft entstehen, werden im BIP nicht gegengerechnet. Völlig unbeachtet bleibt in der Kennzahl zudem die unbezahlte Care-Arbeit: Wo sich Menschen ohne Entlohnung um Kinder oder andere Verwandte kümmern, entsteht aus Sicht des BIP kein Wert – aus Sicht der Gesellschaft dagegen durchaus.
Langer Atem für Alternativen nötig
Diese Mischung aus Messproblematiken und Konzeptmängeln sorgt immer wieder dafür, dass Alternativen zum BIP angeboten werden. Manche Forscher:innen versuchen schlicht, schneller an zuverlässige Daten zu bekommen. So verkündet das Statistische Bundesamt seit dem vergangenen Jahr die erste Schnellschätzung bereits 30 Tage nach Quartalsende, zuvor dauerte es 45 Tage.
Viele andere Vorschläge gehen jedoch weit darüber hinaus: So legen etwa die Grünen seit 2018 einen „Jahreswohlstandsbericht“ vor. Der betrachtet die Entwicklung des Landes in einem Ampelsystem und acht Indikatoren, die sich auf die Bereiche „Ökologie“, „Soziales“, „Ökonomie“ und „Gesellschaft“ verteilen. Aus den USA kommt das Konzept des „GDP-B“, wobei das „B“ für Benefits wie kostenfreie digitale Güter steht. Die OECD hat den „Better Life Index“ erstellt, der laut eigener Definition „mehr als die kalten Zahlen des BIP“ abbilden will. Und immer wieder wird auch das asiatische Königreich Bhutan als Beispiel zitiert: Hier wird seit 2008 das „Bruttonationalglück“ als Richtwert für die Entwicklung des Landes gemessen.
Doch noch ist das BIP global die wichtigste Kennziffer. Und das könnte eine ganze Weile so bleiben. Denn jedes neue Konzept bringt seine eigenen Schwierigkeiten mit sich, wie Herausforderungen bei der Datenerhebung oder eine fehlende Vergleichbarkeit zwischen Ländern und Branchen. Der Blick auf die Bewegung einer Zahl hinter dem Komma ist dagegen für Politik und Bevölkerung klarer zu erfassen.