„Ohne Abschluss – kein Anschluss!“ Ein bekannter Satz, welcher häufig in Bezug auf die berufliche Orientierung Erwähnung findet. Dabei erschweren die wachsende Komplexität und Unübersichtlichkeit der Bildungs- und Ausbildungswege sowie der Wandel in der Arbeitswelt die persönliche Orientierung und Entscheidung zunehmend. Welche Bedeutung Schule im Rahmen der Berufsorientierung einnehmen kann, reflektiert Wirtschaftslehrerin Sabine Borner im Interview.
Frau Borner, wie steht es aus Ihrer Sicht aktuell um die Berufsorientierung an Schulen?
In meiner Wahrnehmung gewinnt die Berufsorientierung an Schulen zunehmend an Bedeutung – nicht zuletzt durch Stimmen aus der Wirtschaft: Potenzielle Arbeitgeber:innen beklagen sich häufig über die „unzureichende“ Vorbereitung der Schüler:innen auf das Berufsleben. Das ökonomische Interesse, den Berufsorientierungsprozess zu unterstützen, zeigt sich z. B. auch in vielen Ratgebern und Informationsportalen, die es rund um die Berufsorientierung gibt. Die Schwierigkeit für Schüler:innen besteht darin, sich in dieser Flut zurechtzufinden. Hier können die Lehrkräfte / Schulen eine wichtige Bewertungs- und Entscheidungshilfe sein. Einer der einfacheren Punkte, wie ich finde. Schwieriger wird es, Praxisnähe bei der Berufsorientierung zu schaffen. Das Auffinden und Aufrechterhalten von Kooperationen mit Unternehmen sind keinesfalls Selbstläufer und die Möglichkeiten hierfür regional sehr unterschiedlich. Aktuell beeinflusst natürlich Corona die Berufsorientierung. So können etwa Schülerpraktika nicht stattfinden bzw. Ausbildungs- und Studienmessen werden abgesagt. Online-Angebote können hier zwar unterstützen, das Schulpraktikum allerdings nicht vollständig ersetzen.
Was müsste sich verändern? Wie sähe Ihrer Meinung nach eine praxisnahe und schülerorientierte Berufsorientierung aus?
Wenn die Berufsorientierung stärker durch externe Bildungspartnerschaften ergänzt werden würde. Das Modell der Bildungspartnerschaften ist eine enge Zusammenarbeit der Schule mit regionalen Unternehmen. Diese können z. B. das Bewerbungstraining übernehmen. Somit ist es für die Schule eine Win-win-Situation: Die Schüler:innen lernen die neuesten Standards kennen, etwa den Ablauf von Auswahlverfahren oder neue digitale Bewerbungswege. Gleichzeitig kommen sie in Kontakt mit der Arbeitswelt und werden mit den ersten beruflichen Herausforderungen konfrontiert. Es darf aber nicht vergessen werden, dass die Berufsfindungsphase ein längerer Prozess ist, in welchem die verschiedenen Akteur:innen Hand in Hand arbeiten müssen. Für die Schüler:innen ist es essenziell, dass sie die Schule gemeinsam mit den Erziehungsberechtigten dabei unterstützt.
Sie haben die Berufsorientierung als „langen Prozess“ bezeichnet. Was genau verstehen Sie darunter und wie kann Schule die Schüler:innen dabei gezielt unterstützen?
Die Berufsorientierung untergliedert sich in einzelne Phasen. In der Selbsterkundungsphase befassen sich die Jugendlichen mit ihren Fähigkeiten, Interessen und Vorlieben. Bei Leistungserhebungen erfahren die Schüler:innen jedoch nicht zwangsläufig, welche Stärken und Talente sie haben. Diese Bewusstmachung und die Stärkung des eigenen Selbstbewusstseins können im Unterricht jedoch angeregt werden – z. B. im Rahmen einer Partnerarbeit mit einer vertrauten Mitschülerin bzw. einem vertrauten Mitschüler: Die Lernenden werden dazu aufgefordert, die eigenen persönlichen Stärken auf die linke Seite eines Blattes zu schreiben. Im Anschluss wandert das Papier an die Partnerin bzw. den Partner und dieser notiert auf den rechten Klapptextrand die Stärken seines Gegenübers. Klar und übersichtlich wird dadurch festgehalten, welche positive Eigenschaften bzw. Stärken andere in einem sehen und inwieweit dies mit der eigenen Vorstellung übereinstimmt. Dieser Ansatz sollte in dieser Phase meines Erachtens bewusst nicht nur defizitorientiert erfolgen. Denn die persönlichen Schwächen könnten die Schüler:innen in ihrer Findungsphase ausbremsen. In der Regel stehen wir unserem eigenen Können sehr kritisch gegenüber.
Und auf diese Phase der Selbsterkundung folgt …
… die Informationsphase. Und auch diese Phase kann im Rahmen des Unterrichts unterstützt und methodisch aufgebaut werden. Ich greife dabei z. B. gerne auf die Methode „Portfolio“ zurück. Ziel dabei ist es, sich über einen längeren Zeitraum mit verschiedenen Frage- oder Aufgabenstellungen zu beschäftigen und den Lernprozess zu dokumentieren. Anknüpfend an die Auseinandersetzung mit den eigenen Stärken und Interessen können die Lernenden bis zu drei Ausbildungs- oder Studienberufe auswählen. Bei der Berufsauswahl muss darauf geachtet werden, dass es unterschiedliche Themenfelder sind, z. B. handwerklicher, kaufmännischer und kreativer Bereich. Für ihr Portfolio sammeln die Schüler:innen relevante Informationen über die gewählten Berufe, wie z. B. Ausbildung- und Studieninhalte, Anforderungen und Tätigkeitsfelder. Eine weitere Portfolioaufgabe könnte sein, dass die Lernenden die Stellenanzeigen verschiedener Zeitungen sichten und hinsichtlich Branche und Standort des Unternehmens, Aufgabenbereiche und Anforderungen analysieren. Durch diesen Vergleich erfahren die Schüler:innen u. a., welche Erwartungen an sie bei den unterschiedlichen Unternehmen gestellt werden und lernen verschiedene Branchen und Tätigkeitsfelder kennen.
Können Sie im Rahmen dieser Informationsphase von positiven Praxiserfahrungen mit außerschulischen Partner:innen berichten?
Sehr schülernah sind etwa die Angebote der „Ausbildungsbotschafter“. Dabei stellen Azubis ihre Berufe vor. Schüler:innen können ihre Fragen direkt an die Botschafter:innen stellen. Dieser interaktive Austausch mit den jungen Azubis ermöglicht den Lernenden mehr über den angestrebten Beruf zu erfahren – und das aus erster Hand. Auch Experteninterviews sind ein probates Mittel, um einen Einblick in verschiedene Berufe und auch den Bewerbungsprozess zu erhalten – ganz besonders, wenn es sich um unbekannte oder, wie meine Schüler:innen es sagen würden, eher „langweilige“ Berufe handelt.
Ein Interview zu einem eher „langweiligen“ Beruf? Das klingt ja nicht ganz so spannend …
Dazu ein Beispiel: Eine ehemalige Schülerin von mir hatte sich bereit erklärt, ihren Studiengang „Public Management“, früher unter dem Ausbildungstitel „Beamtin im mittleren nichttechnischen gehobenen Verwaltungsdienst“ bekannt, vorzustellen. Meine Schüler:innen waren sich im Vorfeld sicher, dass es ein sehr eintöniger Arbeitsalltag sein muss, wenn man für eine Kommune arbeitet. Nach dem Vortrag hat sich diese Einschätzung bei vielen in der Klasse geändert. Meine Schüler:innen haben von diesem Besuch insofern profitiert, als sie offener für Berufsgänge sind, die sich im ersten Moment nicht nach Spaß anhören und mutmaßlich wenig Gestaltungsmöglichkeiten bieten. Daher empfehle ich, Botschafter:innen oder Expert:innen zu unterschiedlichen Berufen einzuladen. Noch dazu sind derartige Interviews natürlich auch virtuell durchführbar – ein entscheidender Vorteil, nicht nur während Corona. Doch ob virtuell oder real – ich halte es für wichtig, zunächst gemeinsam einen Fragenkatalog zu erstellen und diesen nach Beendigung der Interviews ebenfalls im Unterricht zu reflektieren. Auch sollte stets abgeklärt werden, inwiefern die interviewte Person im Vorfeld auf die Fragen vorbereitet werden möchte.
Gibt es auch Methoden, die den Schüler:innen ermöglichen, ihr erworbenes Wissen direkt in der Schule zu testen?
Damit sind wir in der „Best Practice“-Phase angekommen. Meine bevorzugte Methode hierbei ist das „Rollenspiel“: Im Vorfeld informieren sich Kleingruppen zu unterschiedlichen Berufen und im Anschluss werden klassische Bewerbungsgespräche simuliert. Das Rollenspiel muss vor der Umsetzung ausführlich besprochen werden, damit die Aufgaben klar sind. Beobachter:innen können die Simulationssituation bewerten. Als Kriterien eignen sich z. B.: Beantwortung der gestellten Fragen, Auftreten der Bewerberin / des Bewerbers, Motivation, Mimik und Gestik während des Gesprächs. Im Anschluss muss das Rollenspiel ausgewertet werden. Wie haben sich die Bewerber:innen und die Interviewer:innen gefühlt? Was nehmen sie persönlich mit? Welche Schwierigkeiten haben sie erkannt und wie können sie diesen begegnen? Alle Schüler:innen sind aktiv in die Simulation eingebunden. Eine Herausforderung dabei kann sein, dass sich die oder der Lernende in dieser Simulation bzw. mit der Rolle überfordert fühlt oder die Situation als peinlich und bedrohlich für das eigenen Selbstbild empfunden wird. Daher muss ein vertiefendes und reflektiertes Unterrichtsgespräch erfolgen, um das Gefühl eines Misserfolgs oder Unzufriedenheit zu vermeiden und eine wertschätzende Kommunikation unter allen Akteur:innen zu schaffen.
Wie würden Sie abschließend die Möglichkeiten der Schule bei der Berufsorientierung zusammenfassen?
Die Schule soll auf das Leben vorbereiten – und die Arbeit macht einen großen Teil unseres gesellschaftlichen Lebens aus. Für die Berufsorientierung kann die Schule einen Raum stellen, um die ersten Hemmungen oder Ängste in Form von gezielten Experteninterviews, Rollenspielen o. Ä. abzubauen. Auf diese Weise werden die Schüler:innen dabei unterstützt, das eigene Potenzial zu erkennen und zu festigen. Außerdem kann Schule dazu verhelfen, praktische Erfahrungen in Unternehmen zu sammeln: Berufliche Einblicke können angebahnt und dann im Unterricht besprochen und aufgearbeitet werden. Es ist Aufgabe von allen Akteur:innen, die Lernenden auf ihrem Weg in die Berufswelt zu begleiten.